Teil 3 der musikalischen Sommerreise von Finnland nach Portugal.
Der gemeinsame Gesang ist in Lettland ein zentraler Bestandteil der Kultur. Dies zeigen nicht zuletzt die alle fünf Jahre stattfindenen Liederfeste, die auch in den anderen baltischen Ländern veranstaltet werden. In Lettland hat sich hieraus eine äußerst lebendige weibliche Musikszene entwickelt.
Text auch als pdf verfügbar: Musikalische Sommerreise 2018 – Lettland.
1. Die „Singende Revolution“ und die lettische Gesangskultur
1989, auf dem Höhepunkt der Unabhängigkeitsbewegung, bildeten Esten, Letten und Litauer eine 600 Kilometer lange Kette aus zwei Millionen singenden Menschen, die sich quer durch das Baltikum zog (den so genannten „Baltischen Weg“). Es ist daher kein Wunder, dass das Aufbegehren der baltischen Länder gegen die sowjetische Oberhoheit über ihre Territorien als „Singende Revolution“ in die Geschichte eingegangen ist.
Der Begriff ist freilich auch deshalb treffend, weil der gemeinsame Gesang schon zu Zeiten der Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich für Esten, Letten und Litauer ein wichtiges Mittel war, um sich ihrer kulturellen Identität zu vergewissern. In allen drei Ländern war schon früh eine Gesangskultur entstanden, in der man sich über die Pflege des jeweils eigenen Liedguts zugleich der eigenen Sprache und Geschichte versicherte. Höhepunkte dieser musikalischen Zusammenkünfte waren und sind bis heute die alle fünf Jahre stattfindenden Sänger- bzw. Liederfeste, bei denen Chöre aus dem ganzen Land sowie ausländische Gastchöre Kostproben ihrer Kunst geben. Die kulturelle Einzigartigkeit dieser Art von Musikfestivals wurde 2003 auch von der UNESCO gewürdigt, indem sie die Liederfeste in den Rang eines immateriellen Weltkulturerbes erhoben hat.
Während in Litauen die Liederfeste erst seit 1924 gefeiert werden, reicht deren Tradition in Estland und Lettland noch weiter in die Geschichte zurück. In Estland gibt es sie bereits seit 1869, in Lettland seit 1873. Allerdings existiert hier in den deutschbaltischen Liedertafeln und ihren seit 1836 belegten Zusammenkünften ein noch älterer Vorläufer. Dieser weist wiederum Parallelen zu den Gesangsvereinen des deutschen Vormärz auf, in denen man sich jene Versammlungs- und Meinungsfreiheit herausnahm, die von den restriktiven Regimen der Restaurationszeit unterdrückt wurde. Dies drückte sich ebenso im Liedgut selbst aus („Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …“) wie in der Form der Zusammenkünfte, in denen man eben jene ungezwungene Assoziierung Gleichgesinnter auslebte, die der Staat ansonsten zu unterbinden versuchte.
In gewisser Weise sind die baltischen Sängerfeste damit Erben oder zumindest ein Nachhall der deutschen Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Der Unterschied zu den deutschen Gesangsvereinen ist dabei freilich, dass es bei den baltischen Völkern stets nicht nur um politische Rechte, sondern auch um sprachlich-kulturelle Selbstbestimmung ging. Dies erklärt wohl auch, warum den Liederfesten eine zentrale Bedeutung für das nationale Selbstverständnis zukommt. In Lettland sind sie seit 2005 sogar gesetzlich verankert.
Überhaupt scheint das gemeinsame Singen in Lettland noch stärker in der Alltagskultur verankert zu sein als in den beiden Nachbarländern Estland und Litauen. „Singend wurde ich geboren, singend wuchs ich auf, und singend lebe ich mein Leben“ – so heißt es in einem lettischen Volkslied (vgl. Allwardt 2013). Dem entspricht, dass man in Lettland auf Familienfesten wie selbstverständlich vierstimmig im Chor singt und natürlich unzählige Lieder auswendig kennt (vgl. ebd.).
Ein Grund für diese besondere Bedeutung des musikalischer Gemeinschaftserlebnisses könnte die noch stärkere Abschottung vom Ausland in der Zeit der Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich sein: Während die Esten sich an den sprachlich verwandten Finnen orientieren konnten und die Litauer wenigstens noch über die benachbarten Polen, mit denen sie eine lange gemeinsame Geschichte teilen, ein Fenster nach draußen hatten, waren die Letten weitgehend auf sich allein gestellt. Die Konzentration auf die eigenen kulturellen Traditionen fungierte damit hier noch stärker als eine Art Schutzschild gegen die sowjetische Fremdherrschaft.
Die Verankerung des Volkslieds in der Alltagskultur führt dabei nicht zu einem rückwärts gewandten, musealen Verständnis von Musik. Vielmehr scheint gerade der vertraute Umgang mit der musikalischen Tradition Experimentierfreude und kompositorische Innovationen zu begünstigen. Dadurch, dass die Musik ein selbstverständlicher Teil des Alltagslebens ist, fällt es offenbar leichter, mit ihr zu spielen und neue Wege zu erproben. So experimentiert laut Ojar Spartitis, dem Präsidenten der Lettischen Akademie der Wissenschaften, in Lettland jeder Komponist so lange, „bis er das Gefühl des Astronauten bekommt – den Verlust von Gewicht und [ein] Gefühl des Schwimmens in überirdischer Materie“ (zit. nach ebd.).
2. Frauenpower in der lettischen Musikszene
Als Beispiel für diese kreative Bezugnahme auf die musikalische Tradition soll hier auf zwei Frauenbands verwiesen werden, die heute jeweils aus sechs festen Mitgliedern bestehen. Die musikalischen Wurzeln liegen in beiden Fällen in der lettischen Folklore, werden jedoch jeweils durch moderne Elemente bzw. durch Elemente aus anderen Kulturen angereichert.
Bei der 2015 gegründeten Band Tautumeitas drückt sich die Bezugnahme auf die Tradition bereits im Bandnamen aus. Dieser bezeichnete früher Frauen im heiratsfähigen Alter und bezieht sich heute allgemein auf Frauen, die traditionelle Trachten tragen. Die Bandmitglieder haben teilweise Ethnomusikologie studiert, was sich in einer reflektierten Bezugnahme auf die lettische Volksmusik niederschlägt. So geht es ihnen nicht um eine epigonale Anknüpfung an die Tradition, sondern um deren Aneignung für den eigenen musikalischen Ausdruck: „Je näher wir den Liedern kamen, desto näher kamen die Lieder zu uns, bis es naheliegend schien, sie mit allem zu verbinden, was wir als unsere Welt gehört und wahrgenommen haben“ (lauska.lv, vgl. Zalane 2017).
In dem Wiegenlied Pelīte (‚Maus‘) verbindet die Band Elemente der lettischen Folklore mit der Mbira, einem afrikanischen Zupfinstrument. Deren Klänge sollen das Geräusch des Regens widerspiegeln, das die Entstehung des Liedes begleitet hat: Laut Aussagen von Asnate Rancāne, die die Mbira in dem Lied spielt, ist es während eines Gewitters entstanden, vor dem sie in einem Zelt Zuflucht gesucht hatte. Gleichzeitig gäben die Klänge der Mbira, so Rancāne, aber auch die meditativ-nostalgische Stimmung wider, in die man durch das gleichmäßige Geräusch des Regens geraten könne (vgl. ebd.).
Auch die seit 2008 existierende Band Sus Dungo vermischt in ihren Liedern traditionelle Elemente der lettischen Musik mit anderen musikalischen Richtungen. Neben Instrumenten, die man eher der klassischen Volksmusik zurechnen würde (wie dem Akkordeon und der Ukulele), kommen auch Instrumente wie die Querflöte und die Harfe zum Einsatz, die eher in der klassischen Musik zu Hause sind. Gleichzeitig sind jedoch auch E-Gitarrenklänge zu hören.
Daraus ergibt sich eine eigenwillige Mischung, die sich bereits im Namen der Band andeutet: „Sus“ ist der Name, den die Bandgründerin, Diāna Čepurnaja, einst ihrer Gitarre gegeben hat und aus dem schließlich ein Spitzname für sie selbst geworden ist. „Dungo“ bedeutet auf Lettisch „summen“. „Sus Dungo“ lässt sich demnach mit „Summende Gitarre“ übersetzen. Der Name deutet also auf eine Musik hin, die die Zuhörer in neue, unerwartete Klangwelten entführt.
3. Links zu Lettland
Allgemeine Informationen:
Kasten, Anette: Geschichte [chronikartiger Überblick zur Geschichte Lettlands]; East West Information Service.
Latvia.eu: Die lettische Sprache. [Informationsseite des Lettland-Instituts, Riga; bietet neben einer kurzen Einführung in Besonderheiten des Lettischen auch einen chronikartigen Überblick über die Entwicklung der lettischen Sprache.]
Radü, Jennie: Lettland: Die baltischen Sprachen [über die lettische und die litauische Sprache]. Planet Wissen, 25. Januar 2018.
Šimkuva, Helēna: Lettland. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Universität Oldenburg, 2014 (aktualisierte Fassung 6. Februar 2015). [ausführlicher Überblick zur Geschichte Lettlands, unter besonderer Berücksichtigung der Deutschbalten; mit weiterführender Literatur]
Liederfeste / Singende Revolution:
Allwardt, Ingrid: Lettland – ein Land, das singt und Stille lebt. so-klingt-europa.de (2013).
Baltikumreisen.de: Sängerfeste im Baltikum.
Hufen, Uli: Menschenkette für die Freiheit. Das Ende des Ostblocks im Baltikum. Deutschlandfunk Kultur, 23. August 2014.
Schellen, Petra: Musik aus dem Baltikum: Im Gesang vereint. taz, 7. Juli 2013.
4. Links zu den Songs + Übersetzungen
Tautumeitas: Pelīte
aus: Sviests 7 (Various Artists, 2017)
Ausschnitte aus Live-Konzert (Pelīte: 5:00 bis 5:40)
Infos zu Pelīte von Daina Zalane auf lauska.lv (5. April 2017); Liedtext bei der Band angefragt; wird nachgetragen, sobald Antwort erfolgt
Sus Dungo: Rasā Pēdas
aus: Rasā Pēdas (2013)
Komplettes Album auf Bandcamp
Infos zur Band (englisch)
Interview (von einem türkischen Blogger auf Englisch geführt, 2012)
Übersetzung:
Spuren im Tau
Auch Wildrosen können verloren gehen.
Verstrick dich ruhig in ihnen, aber blick dann nicht zurück!
Schau hin – aber pass auf, dass du dich nicht in ihnen verlierst.
Doch auch wenn du dich bemühst, dich nicht in der Dunkelheit zu verlieren:
Wie kannst du wissen, was Dunkelheit ist, wenn es dunkel ist?
Auch im Tau hinterlässt du Spuren, auch im Tau …
Auch Spuren im Tau können unberührt bleiben,
unerkannte Wege bilden, unentdeckte Pfade,
auch Spuren im Tau können unberührt bleiben.
So viele Blüten sind noch im Herzen verborgen,
aber im Dunkeln können sie sich nicht entfalten,
und so verlieren sie sich mit jedem Schritt, mit jedem Schritt.
Auch wenn du dich bemühst …
Auch im Tau hinterlässt du Spuren …
Auch Spuren im Tau können unberührt bleiben …
Am 8. Juli unternehmen wir bei unseren musikalischen Sommerrreise einen Abstecher nach Weißrussland.
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