Wie kommt es, dass so viele saarländische PolitikerInnen in Berlin an den Machthebeln sitzen? Ein Erklärungsversuch.
Der Rothe Baron verdankt seine Existenz der saarländischen Politik. Er wurde 2012 geboren, als ich meinem Ärger darüber Luft machen wollte, dass die SPD nach den damaligen Landtagswahlen die Option eines Linksbündnisses ausschlug und stattdessen eine Koalition mit der CDU einging. Personell bedeutete diese Koalition den Beginn der politischen Ehe zwischen Annegret Kramp-Karrenbauer und Heiko Maas.
Nie hätte ich mir träumen lassen, dass das saarländische Prinzenpaar ein paar Jahre später auch auf gesamtdeutscher Ebene die politische Agenda maßgeblich mitbestimmen würde – flankiert durch den ebenfalls aus dem Saarland stammenden Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Hinzu kommen u.a. noch die Graue Eminenz der Linken, Oskar Lafontaine, sowie bis vor Kurzem die ehemalige Grünen-Chefin Simone Peter.
Das Saarland spielt demnach auf überregionaler Ebene eine Rolle, die in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Größe und faktischen Bedeutung steht. Wie ist das zu erklären? Ist das Saarland etwa das deutsche Harvard? Werden hier die Pendants der französischen „Enarchen“ geformt, der Absolventen der Verwaltungshochschule ENA (école nationale d’administration), die in Frankreich die Politik bestimmen?
Mir sind entsprechende Ausbildungsstätten nicht bekannt. Aber vielleicht ist es ja auch gar keine formelle Ausbildung, die einen in Deutschland zum Spitzenpolitiker prädestiniert. Nur: Was ist es dann, das die SaarländerInnen den politisch Aktiven aus anderen Bundesländern voraushaben?
Eine mögliche Erklärung ist rein organisatorischer Natur. Weil das Saarland so klein ist, ist es hier viel einfacher als anderswo, an die Spitze der Macht zu gelangen. Die Ochsentour durch die Kreis- und Bezirksverbände, die den Weg nach oben anderswo recht steinig macht, bleibt einem hier ganz oder doch wenigstens zum größten Teil erspart. So werden die Aufstiegswilligen auch schneller in die einschlägigen Bundesgremien delegiert und können dort auf sich aufmerksam machen.
Eine weitere Erklärung für den saarländischen Durchmarsch betrifft die kommunikative Ebene. Der ehemalige Vorsitzende der saarländischen GEW (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft), Peter Balnis, hat einmal gesagt: „Das Annegret“ – das Annegret, weil Frauen im Saarland durch einen sprachlichen Jungbrunnen für immer Mädchen bleiben – „macht Politik mit Kranzkuchen.“
Diese Bemerkung charakterisiert treffend die Art, wie im Saarland politische Interessen durchgesetzt werden und politischer Ehrgeiz befriedigt wird. Man kämpft sich hier nicht an die Macht, sondern kungelt sich nach oben. Ellbogen helfen nicht weiter. Vielmehr ist es wichtig, andere mit unverbindlichen Freundlichkeiten einlullen zu können: Hier ein Stück Kranzkuchen, dort eine kleine Gefälligkeit, ein scheinbares Entgegenkommen, das die anderen faktisch den eigenen Interessen dienstbar macht. Nur so ist in der saarländischen Filzokratie politischer Aufstieg möglich. Wer die örtlichen Provinzpaten nicht hofiert und mit kleinen Aufmerksamkeiten (Aufträge für Bauunternehmer, lukrative Pöstchen für den Hofstaat der politischen Platzhirsche etc.) zufrieden stellt, wird ganz schnell ins politische Abseits befördert.
Diese Umgangsformen haben sich durch den Konsenszwang der Großen Koalition noch einmal verstärkt. Sie gelten daher in verstärktem Maße für die jüngere PolitikerInnengeneration und weniger für Alphatiere wie Oskar Lafontaine, der in den unendlich fernen Zeiten absoluter sozialdemokratischer Mehrheiten noch als „Napoleon von der Saar“ durchregieren konnte.
Auf der Bundesebene, wo die wenigsten mit der spezifischen politischen Kultur des Saarlands vertraut sind, wirken die von dort Entsandten durch ihre politische Sozialisation oft verbindlicher als Menschen, die nicht durch eine entsprechende kommunikative Schule gegangen sind. Sie hauen nicht auf den Tisch, sie gehören nicht zur Basta-Fraktion, sie drängen sich nicht vor. Ihre Durchsetzungsstrategie beruht eher auf vermittelnden Beiträgen und der Fähigkeit, anderen eine grundsätzliche Offenheit gegenüber deren Interessen und Positionen zu signalisieren.
Auf diese Weise lässt sich leicht das eigene Beliebtheitskonto auffüllen. Menschen, von denen sich viele verstanden fühlen, die sich gleichzeitig aber nicht in den Vordergrund drängen, eignen sich aber auch hervorragend als KompromisskandidatInnen. Sie sind diejenigen, auf die konkurrierende Lager sich am ehesten einigen können, wenn keines von ihnen die Mehrheit erreichen kann.
Aber hatte die saarländische Provinzprinzessin in Friedrich Merz nicht einen potenten Konkurrenten? Hat sich mit ihrer Wahl nicht gerade ein Lager gegen das andere durchgesetzt? Ja, richtig. Aber: Friedrich Merz kam von außen. Im Inner Circle war „AKK“ bis zum Auftritt des rachelüsternen Polit-Aussteigers unumstritten. Mit Ausnahme von Ego-Shooter Spahn hatten alle innerparteilichen Konkurrenten stillgehalten, insbesondere die mächtigen Landesfürsten.
Und hier kommt nun noch ein weiterer Punkt ins Spiel: die Frage nämlich, ob der Parteivorsitz oder auch das Kanzleramt für die politische Elite in den großen Bundesländern überhaupt erstrebenswert sind. Seit der Verfassungsreform von 2006, die die Entscheidungsbefugnisse der Länder in wichtigen Teilbereichen noch einmal erheblich erweitert hat, ist ein großes Bundesland ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Machtbasis. Und jagt es sich aus dem Hinterhalt nicht viel erfolgreicher? Lässt sich das Wild so nicht viel effektiver in die gewünschte Richtung treiben?
Auch dies könnte demnach eine Erklärung für den frappierenden Aufstieg saarländischer PolitikerInnen an die Schalthebel des Staates sein: Sie erscheinen den Herrschenden in den regionalen Machtzentralen als Marionetten, über die sie ihre Interessen durchsetzen können, ohne sich selbst den bundespolitischen Stress-Job antun zu müssen. Dahinter können auch handfeste materielle Interessen stehen. Schließlich lässt sich das Networking in der Provinz eher mit einem lukrativen Anschluss-Job vergolden als im Falle einer KanzlerInnentätigkeit. Nicht jedem ist es gegeben, sich über ungeschriebene Anstandsregeln so schamlos hinwegzusetzen wie Gerhard Schröder, der einfach Putin-Büttel geworden ist, nachdem er nicht mehr Auto-Kanzler sein durfte.
In saarländischen PolitikerInnen Spielfiguren zu sehen, die sich nach Belieben manipulieren lassen, dürfte allerdings auf einem (polit-)kulturellen Missverständnis beruhen. Die verbindliche, unaufdringliche Art, die sie im politischen Mikro-Klima ihrer Heimat erworben haben, mag ihnen zwar in Fleisch und Blut übergegangen sein, so dass sie sich als Projektionsfläche für alle möglichen politischen Wünsche und Interessen eignen. Dies gilt dann aber auch für den gezielten Einsatz dieser Kommunikationsstrategien zum Erwerb und Erhalt der politischen Macht. Halten sie diese einmal in Händen, dienen dieselben Kommunikationsstrategien ihnen dazu, ihre Gegner gegeneinander auszuspielen oder „totzulieben“, ohne dass es diesen auffällt.