Ein doppelter Demokratie-Blues
Wer es mit der Demokratie hält, hat derzeit nicht viel zu lachen. Ich denke dabei nicht nur an die unzähligen autoritären Führer und Führerlein, von denen derzeit jeden Tag ein neuer geboren zu werden scheint. Fast noch mehr schlägt mir die – auch in nicht-autokratischen Gesellschaften – immer mehr um sich greifende Tendenz auf den Magen, den demokratischen Diskurs durch eine Mischung aus Image- und Diffamierungskampagnen zu ersetzen.
Hierzu finden sich jede Woche neue Beispiele. In der letzten Woche fand ich die Krankheitsmeldungen zur Demokratie allerdings besonders bemerkenswert. Ich habe mich gefühlt, als hätte mir ein Elefant auf den Fuß getreten – deshalb gibt es hierzu im Folgenden einen Klagelaut in Worten (Demokratisches Klagelied zu KW 13, s.u.).
Ich nutze die Gelegenheit, um einen weiteren Beitrag ins Netz zu entlassen, den ich schon vor Längerem fertiggestellt habe (Volksherrschaft als Herrschaft der Vernunft, s.u.). Darin tue ich als Rother Baron mal wieder das, was man als Rother Baron eben so tut: zur Revolution aufrufen. Wer häufiger in meiner Blog-Hütte vorbeischaut, wird in dem Essay wohl Gedanken entdecken, die bereits in anderen RB-Texten aufgetaucht sind. Der Geist erfindet sich eben nicht jeden Tag neu. Oft ist geistige Arbeit eher ein Umschichten und Umsortieren, wie bei einem Schrank, der neu aufgeräumt wird.
In diesem Sinne habe ich manches bewusst zugespitzt formuliert, anderes genauer ausgeführt, dafür dann allerdings auch Dinge, die ich an anderer Stelle bereits ausführlich diskutiert habe, nur gestreift. Die entsprechenden Beiträge sind am Ende der PDF-Datei verlinkt. Für diejenigen, die in ihrem revolutionären Durst zu ungeduldig sind, um sich meinen vorbereitenden Überlegungen zu widmen, ist diesem Text eine Inhaltsübersicht beigegeben. Wer als Avantgarde der Revolution voranstürmen möchte, kann so gleich zu den entsprechenden Vorschlägen vorscrollen:
Volksherrschaft als Herrschaft der Vernunft. Vorschläge für eine Demokratisierung der deutschen Demokratie.
Demokratisches Klagelied
zu KW 13
Nachdem ich hier schon mehrmals meine Kritik am neuen EU-Leistungs“schutz“recht geäußert habe (vgl. Rubrik ‚Medien‘), wird meine Reaktion auf dessen endgültige Verabschiedung am vergangenen Dienstag niemanden überraschen: Ich war entsetzt. Das Schockierende an der Abstimmung im EU-Parlament war für mich allerdings nicht nur, dass mit dem neuen Rechtsrahmen der Zensur Tür und Tor geöffnet wird, dass Meinungsfreiheit und künstlerische Kreativität hierdurch massiv beschnitten werden könnten. Mindestens ebenso stark schlägt mir die Orwell-Sprache auf den Magen, mit der die neuen Gesetzesvorgaben durchgesetzt worden sind.
Da wird vom „Urheberrechtsschutz“ geredet, wo in Wahrheit gerade die Interessen der großen Konzerne gestärkt werden, die die UrheberInnen geistiger Werke ausbeuten. Es heißt, Kreative sollten besser vor einer missbräuchlichen Nutzung ihrer Werke geschützt werden, während die generalisierten Upload-Filter in Wahrheit dazu angetan sind, die Verbreitung eigener geistiger Inhalte zu erschweren. Konservative Politiker gerieren sich als Klassenkämpfer, die gegen die „Big Five“ der Internet-Branche zu Felde ziehen, während sie in Wahrheit nur die Interessen der etablierten Medienkonzerne gegen die neuen Medienmogule verteidigen.
Zu dieser Verschleierung der eigentlichen Absichten passt schließlich auch die offene Diskreditierung derer, die den Schleier niederzureißen versuchen. Jene Millionen von Menschen, die sich in den Wochen vor der Abstimmung an Demonstrationen gegen das Gesetzesvorhaben beteiligt haben, sind pauschal der Instrumentalisierung durch die großen Internetkonzerne bezichtigt worden. Ihre Kritik ist folglich schlicht nicht zur Kenntnis genommen worden, sie sind als unmündige, unverständige Rechtsanalphabeten abgestempelt worden, mit denen sich nicht diskutieren lässt.
Besonders erschreckend ist, dass diese doppelte Verachtung des Volkes – durch die Mischung aus Orwell-Diktion und Diskursverweigerung – so kurz vor den nächsten Wahlen zum Europaparlament geschieht. Deutlicher könnte die herrschende Politkaste nicht zeigen, dass die Wahlen für sie nur ein sinnentleertes Ritual sind, das keinerlei Auswirkungen auf ihr Handeln hat. Das Volk als Souverän, demokratische Mitbestimmung – alles nur Fassade. Der wahre Souverän ist eine Kaste von machtbesessenen Technokraten und Lobbyisten, die gemeinsam die Gesetze auskungeln.
Das Schlimme daran ist: Die Arroganz, mit der bei der Debatte über das Leistungs“schutz“recht über kritische Einwände hinweggegangen worden ist, ist kein Einzelfall. Die Beschimpfung von Demonstrierenden, wie sie sich CDU-Politiker im EU-Parlament erlaubt haben, ist eher ein Symptom für den Niedergang der Demokratie als ein bedauernswerter Ausrutscher.
Parallel zu den Vorfällen im EU-Parlament erleben wir in Großbritannien eine Regierung, die betont, die Abstimmungen des Unterhauses hätten für sie keine bindende Wirkung und somit letztlich keinerlei Bedeutung – es sei denn, das Parlament stimmt so ab, wie es die Regierung für richtig hält. In Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron den Protest der Gelbwesten durch Scheindebatten zu ersticken versucht, in denen alle mal ordentlich drauflosschimpfen dürfen, ehe der Präsident am Ende alle Einwände entkräftet und den dummen Debattierenden erklärt, wo es langgeht. In Spanien drohen katalanischen Politikern langjährige Haftstrafen, weil sie eine Volksbefragung durchgeführt haben. Zusätzlich wird hier mittlerweile sogar das Aussprechen der Wahrheit unter Strafe gestellt. So ist es im derzeitigen spanischen Wahlkampf verboten, die katalanischen Untersuchungshäftlinge als das zu bezeichnen, was sie sind: als politische Gefangene.
In all diesen Fällen wird der Volkswille also ostentativ missachtet und im Extremfall sogar kriminalisiert. Gleichzeitig wird jedoch so getan, als tue die Regierung nichts anderes, als den „wahren“ Volkswillen umzusetzen. In Großbritannien hat der Brexit schon fast religiösen Charakter angenommen. Dass ihm nur eine knappe Mehrheit der Briten zugestimmt hat, dass er in Schottland und Nordirland, in London und bei jungen Wählenden mit großer Mehrheit abgelehnt worden ist – geschenkt. Ebenso wird in Spanien der Wille einer imaginären spanischen „Nation“ für sakrosankt erklärt und über den Selbstbestimmungswillen einzelner Völker gestellt.
Das politische Handeln ist so im höchsten Maße irrational. Es orientiert sich nicht an vernünftigen Entscheidungsprozessen, sondern an Glaubenssätzen, hinter denen das Volk wie hinter Fetischen versammelt wird. Dies vergiftet die politische Atmosphäre, da diejenigen, die sich dieser Fetisch-Politik nicht fügen wollen, wie Häretiker verfolgt werden.
Es führt deshalb in die Irre, vom Siegeszug des Populismus zu sprechen. Suggeriert wird damit, dass es auf der einen Seite vernünftige Parteien gibt, die den rationalen Diskurs befördern, und auf der anderen Seite skrupellose Volkstribunen, die die Wählenden mit emotionalen Parolen für sich zu gewinnen versuchen. In Wahrheit sind jedoch die populistischen Bewegungen nur eine extreme Entwicklungsform der Parteien, die schon seit langer Zeit nicht mehr auf die Kraft der Argumente setzen, sondern die Wählenden mit klassischen Werbemethoden, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle ansetzen, umgarnen. Das sich abzeichnende und mancherorts in Europa auch schon besiegelte Ende der Volksparteien ist folglich nur die logische Konsequenz der Zurückdrängung des demokratischen Diskurses.
Der Endpunkt dieser Entwicklung – die vollständige Übernahme der Macht durch die populistischen Bewegungen und ihre Führer – ist gleichbedeutend mit dem Todesstoß für die Demokratie. Volksverführer wie Donald Trump, Matteo Salvini oder Recep Tayyip Erdoğan stehen jenseits der Demokratie. Sie nutzen die demokratischen Spielregeln lediglich, um an die Macht zu kommen. Halten sie sie einmal in Händen, so nutzen sie die demokratisch erworbene Macht, um die Demokratie zu zerstören.
Die Konsequenz hieraus kann nun aber nicht sein, dass man die demokratische Mitbestimmung einschränkt, um sozusagen das Volk vor sich selbst zu schützen. Denn auch dies würde nur den autoritären Führern in die Hände spielen, die sich ja schon jetzt als Patriarchen aufspielen, als „Väter“ des Volkes, die besser als dieses wissen, was für die Untertanen gut ist.
Nein, was wir brauchen, ist eine neue Form direkter Demokratie, die Mitbestimmung ermöglicht und ermutigt, dabei aber gleichzeitig Wege findet, der Instrumentalisierung von Mitbestimmungsprozessen für undemokratische Machtinteressen vorzubeugen. Dies kann nur dann gelingen, wenn wir uns wieder auf den aufklärerischen Kern des demokratischen Projektes zurückbesinnen, Mitbestimmung also eng mit dem rationalen Diskurs und geistigen Emanzipationsprozessen verknüpfen.
Hierfür bräuchten wir freilich gänzlich neue demokratische Spielregeln. Dabei würde der Volkswille nicht mehr als Wille einer imaginären Volksgottheit verstanden werden, der bei Wahlen wie bei einem Gottesurteil erfragt wird. Stattdessen wäre der Volkswille dann die Summe von Einzelentscheidungen, die Menschen vor Ort im freien, fairen und rationalen Diskurs mit anderen treffen würden.
Wie eine solche radikal erneuerte Demokratie konkret aussehen soll? Ein echtes Modell dafür zu erarbeiten, würde natürlich viel Zeit und intensive Gespräche erfordern. Eine erste Gesprächsgrundlage stelle ich aber hier zur Diskussion:
Volksherrschaft als Herrschaft der Vernunft. Vorschläge für eine Demokratisierung der deutschen Demokratie
Bild: Paul Gauguin: Der Markt (1852)
Das sind wirklich spannende Ideen. Leider glaube ich nicht, dass sie umgesetzt würden. Die Analyse des Parteiensystems teile ich voll und ganz. Ich habe fast immer „grün“ gewählt, aber auch in dieser Partei sehe ich z.T. Populismus und Korruption (das Verhältnis zu ABO Wind stößt mir übel auf). Das Treiben der CDU in der EU ..Naja…
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Siebenköpfiger Bundesrat, Ständerat und Nationalrat, Volksabstimmungen, Referendumsrecht und Initiativrecht. Exekutive, Legislative, Judikative auf allen Ebenen (Bund, Kantone und Gemeinde), die Sitze im Proporz gewählt: funktioniert recht gut. LG von Regula
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Ja, da sprechen wir von der Schweiz …Da gibt es Aspekte direkter Demokratie …
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Ich bin immer wieder froh darüber. Manchmal dauert es einfach lang, bis es Veränderung zum Besseren gibt. Zum Schlimmeren allerdings auch. Grad im Moment gibts Änderungen zum Besseren. Mehr Mensch und weniger Wirtschaftsgott. Wenigstens ist die Politelite nicht so abgehoben.
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Was mir an dem Vorschlag gefällt, ist die Eigenverantwortung, die hiermit befördert wird. Im Moment machen es sich ja auch die Wähler*innen einfach: Meckern und selbst keine Vorschläge machen. Ich war selbst viele Jahre in der Kommunalpolitik aktiv. Bei Anhörungen kommen immer die gleichen Leute, die sich interessieren. Die anderen sitzen lieber auf dem Sofa und meckern nachher rum… Ein solches System würde auch das Denken und Handeln anregen und die Verantwortlichkeit vieler befördern…. Ob es von der so genannten „trägen“ Masse gewünscht ist????- Aber man kann ja mit Demokratie und Verantwortung schon in der Schule anfangen.
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Das sind wirklich spannende Überlegungen. Und die Analyse der bestehenden Verhältnisse ist recht zutreffend…. Allerdings geht das Ganze von einem sehr optimistischen Menschenbild aus. An der Bereitschaft sich wirklich mit politischen Themen auseinanderzusetzen, muss noch gearbeitet werden.
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