Ein kritischer Glückwunsch zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes

Am 23. Mai feiert unsere Verfassung ihren 70. Geburtstag. Ganz Deutschland feiert … Ganz Deutschland? Nein, hier und da haben sich noch ein paar Unkräuter auf dem festtäglich getrimmten Rasen erhalten. Wer genau hinschaut, wird auch das stachlige Rotbaronescus-Kraut entdecken, das sich bislang erfolgreich vor den Rasentrimmern weggeduckt hat. Und – o Wunder! – das ketzerische Kraut spricht zu uns …
Am 23. Mai feiert unsere Verfassung ihren 70. Geburtstag. Ganz Deutschland feiert mal wieder sich selbst: Exportweltmeister! Rekord-Fußballweltmeister! Und natürlich auch: Verfassungsweltmeister! Was sind wir doch für ein freies Land! Wie gehen wir alle so gerecht und menschlich miteinander um!
Ganz Deutschland feiert … Ganz Deutschland? Nein, hier und da haben sich noch ein paar Unkräuter auf dem festtäglich getrimmten Rasen erhalten. Wer genau hinschaut, wird auch das stachlige Rotbaronescus-Kraut entdecken, das sich bislang erfolgreich vor den Rasentrimmern weggeduckt hat.
Und – o Wunder! – das ketzerische Kraut spricht zu uns. Bevor die Feiertagsreiniger es bemerken und es zu dem anderen unnützen Wildwuchs auf den Scheiterhaufen werfen, spuckt es vier Mal in die geburtstäglich gewürzte Verfassungssuppe.
Wie – ich soll nicht so despektierlich über die Väter und Mütter unserer glorreichen Verfassung reden? Gut, ich stelle klar: Die Damen und Herren Ur-DemokratInnen haben das Beste für uns gewollt. Unter den gegebenen Umständen und zu der Zeit, in der sie die Verfassung entwickelt haben, ist ihnen ein beachtlicher Wurf gelungen. Aber: Es waren eben doch nur Menschen, keine Gottheiten. Was sie für uns geschaffen haben, sind nicht die Zehn Gebote. Es gibt Konstruktionsfehler in ihrem Entwurf, und es ist kein Werk für die Ewigkeit.
Meine Kritikpunkte und Diskussionsvorschläge beziehen sich auf folgende Aspekte:
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Konstruktionsfehler des Grundgesetzes
Mangelhafte Durchsetzung der Gewaltenteilung
Der zentrale Konstruktionsfehler unserer Verfassung besteht für mich in der mangelhaften Durchsetzung der Gewaltenteilung. Insbesondere ist die Judikative in Deutschland nicht klar genug von der Legislative getrennt, da die höchsten Richter, wie in Artikel 94/95 des Grundgesetzes bestimmt, von den Organen der Legislative – also Bundestag und Bundesrat sowie den Länderparlamenten – bestimmt werden.
Zwar sind die Bundesrichter in ihren Entscheidungen nicht von der Politik abhängig. Da sie jedoch von einem Richterwahlausschuss ernannt werden, der sich aus den Justizministern der Länder und 16 Bundestagsabgeordneten zusammensetzt, kann die Politik durch eine entsprechende Personalauswahl zumindest auf die Entscheidungstendenzen Einfluss nehmen. Dies gilt auch für die Richter am für die Gewaltenteilung besonders wichtigen Bundesverfassungsgericht, die je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden.
Vor allem die gängige Praxis, das Vorschlagsrecht für die KandidatInnen gemäß den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen unter den Parteien aufzuteilen und so die Rechtsprechung gemäß deren Interessen zu beeinflussen, widerspricht klar dem Geist der Verfassung. Sie ist allenfalls so lange tolerierbar, wie die Parteien herausragende und fachlich unbestrittene Persönlichkeiten aus der Parteipolitik ans Bundesverfassungsgericht befördern – wie es etwa bei Jutta Limbach oder Roman Herzog der Fall war.
Spätestens seit der Berufung des ehemaligen saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller zum Bundesverfassungsrichter droht das Gericht jedoch zu einem Spielball politischer Interessen zu werden. Auf dieser Linie liegt auch die Ende vergangenen Jahres erfolgte Ernennung von Stephan Harbarth zum Bundesverfassungsrichter, für die rein parteipolitische Erwägungen ausschlaggebend waren.
So erscheint es dringend notwendig, das Berufungsverfahren für das Bundesverfassungsgericht gründlich zu überarbeiten. Am saubersten wäre es wohl, das Auswahlprocedere in die Hände eines reinen Fachgremiums zu legen, dem ehemalige BundesverfassungsrichterInnen ebenso angehören könnten wie JuristInnen, die sich durch wissenschaftliche Veröffentlichungen und/oder ihre Tätigkeit als RichterInnen besonders hervorgetan haben.
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Verfassungstheorie und Verfassungswirklichkeit
Die schönste Verfassung nützt uns nichts, wenn sie im politischen und sozialen Alltag straflos missachtet werden kann.
Das Gewissen der Abgeordneten und der Fraktionszwang
Nehmen wir zum Beispiel Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes: Demnach sind die Abgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Wirklich? Die Parteien interessiert das jedenfalls nicht. Sie nehmen das Wort „Fraktionszwang“ in den Mund, ohne rot zu werden, obwohl eben dieser Zwang eindeutig verfassungswidrig ist (1).
Das Gebot „gleicher Wahl“ und die 5-Prozent-Hürde
Auch dass die Bundestagsabgeordneten – wie an selber Stelle verfügt wird – in „freier, gleicher und geheimer Wahl“ vom Volk bestimmt werden, entspricht so nicht der Verfassungsrealität. Insbesondere der Gleichheitsgrundsatz trifft auf Wahlen in Deutschland nicht zu. Vielmehr funktionieren diese nach dem Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Sowohl was die Wahlkampffinanzierung anbelangt als auch hinsichtlich der Präsenz in den Medien werden etablierte Parteien klar bevorzugt.
Kleinere Parteien werden zudem durch die 5-Prozent-Hürde zusätzlich benachteiligt. Weil Wahlberechtigte, die ihr Kreuzchen bei den betreffenden Parteien machen, Gefahr laufen, ihre Stimme zu verlieren, wirkt die Sperrklausel abschreckend. Diese Wirkung ließe sich durch die Möglichkeit einer Ersatzstimme – die zählen würde, wenn die erste Präferenz der Wählenden nicht zum Zuge kommt – zumindest abschwächen. Hieran haben die etablierten Parteien aber aus nahe liegenden Gründen kein Interesse. Lieber nehmen sie die verfassungswidrige Ungleichheit der einzelnen Wählerstimmen in Kauf.
Die Würde des Menschen und die Arbeitsagentur
Auch die „Würde des Menschen“ ist im gesellschaftlichen Alltag keineswegs so „unantastbar“, wie es das Grundgesetz in seinem berühmten Einleitungssatz verheißt. So werden Hartz-IV-Empfänger bei uns nach Herzenslust gemaßregelt und zwangsverwaltet. Würde? Ein erfülltes Arbeitsleben? Pure Utopie. Was zählt, ist allein der Fleck in der blank polierten Arbeitslosenstatistik, der durch die lästige „Kundschaft“ verursacht wird.
Körperliche Unversehrtheit und Mobilitätslärm
Noch schwerer wiegt, dass bei uns in der Praxis Mobilität höher gewichtet wird als die „körperliche Unversehrtheit“, auf die laut Verfassung (Art. 2) ebenfalls alle das gleiche Recht haben. An den Durchgangsstraßen werden schon Kleinkinder mit Feinstaub gefüttert, im Rheintal donnern ICEs und Güterzüge (Letztere auch nachts) an den Häusern vorbei, in den Einflugschneisen der Großflughäfen ist ein Aufenthalt im Freien nur um den Preis ständig unterbrochener Gespräche möglich.
Von „Lärmbelästigung“ zu sprechen, ist hier eine starke Untertreibung. Der passende Ausdruck ist vielmehr „Lärmverletzung“. Denn die Schallemissionen liegen jeweils deutlich oberhalb jener Schwelle, jenseits welcher sie erwiesenermaßen zu Erkrankungen verschiedener Art führen, insbesondere zu schweren Herz-Kreislauf-Beschwerden (2).
So nimmt man mit dem Vorrang der Mobilität vor dem Gesundheitsschutz billigend in Kauf, dass Menschen an den betreffenden Orten häufiger krank werden und früher sterben als andernorts. Die grundgesetzlich garantierte körperliche Unversehrtheit müsste wenigstens dazu führen, dass Ausweichquartiere oder umfangreiche Schutzmaßnahmen gegen Lärm und Feinstaub angeboten werden. Doch selbst das ist entweder gar nicht oder nur in sehr eingeschränkter Weise der Fall.
Die Würde der Deutschen und die Würde der anderen
Auch steht nirgends in der Verfassung geschrieben, dass das Recht auf körperliche Unversehrtheit nur für Deutsche gilt und nur deren Würde unantastbar ist. So ist auch der Umgang mit Flüchtlingen, insbesondere die vielfach menschenverachtende Abschiebepraxis, kaum mit der Verfassung vereinbar.
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Verfassungstreue und internationale Bündnisse
Die Ächtung von Angriffskriegen und die NATO
Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs war für den Parlamentarischen Rat bei der Erarbeitung der Verfassung auch die Maxime handlungsleitend, dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen solle. Dementsprechend werden in Artikel 26 des Grundgesetzes „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“, explizit als „verfassungswidrig“ bezeichnet. Die Vorbereitung zur „Führung eines Angriffskrieges“ ist denn auch laut diesem Grundgesetzartikel unter Strafe zu stellen.
Bei unseren BundeswehrsoldatInnen handelt es sich demzufolge der Idee nach um lauter Friedensengel. Und natürlich folgt aus der Idee einer reinen Verteidigungsarmee auch die Beschränkung des Einsatzes militärischer Mittel auf ein absolutes Minimum. Der Geist der Verfassung liegt damit hier quer zum Geist der NATO, die bekanntlich von jedem Mitgliedsland verlangt, Jahr für Jahr zwei Prozent des Bruttosozialprodukts in das Militär zu investieren. Seit Donald Trump US-Präsident ist, wird die Umsetzung dieser Zielvorgabe auch offensiv eingefordert.
Der US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein und das Grundgesetz
Auch die fortgesetzte Präsenz der US-Truppen in Deutschland, die nach 1990 schlicht von Besatzungs- in NATO-Truppen umetikettiert worden sind, ist verfassungsrechtlich problematisch. Dies gilt in besonderem Maße für den Luftwaffenstützpunkt im rheinland-pfälzischen Ramstein. Denn von Ramstein aus wurden in der Vergangenheit immer wieder Drohneneinsätze zur Tötung so genannter „feindlicher Kombattanten“ befehligt (3) – falls nötig, in enger Abstimmung mit dem in Stuttgart angesiedelten amerikanischen Oberkommando für Afrika (Africom).
Außerdem wurde Ramstein in der Vergangenheit auch zum Transport von Kriegsgefangenen nach Guantanamo und an andere Orte, wo international geächtete Verhörtechniken wie das berüchtigte Waterboarding zum Einsatz gekommen sind, genutzt. Hinzu kommen weitere Kriegseinsätze, so dass sich in der Summe eindeutig feststellen lässt: Diese Air Base ist verfassungswidrig, da Deutschland durch sie in nicht vom Grundgesetz gedeckte Angriffskriege verwickelt wird.
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Die Verfassungsprinzipien in der digitalen Welt
Meinungsfreiheit in Zeiten von Hate Speech und Fake News
Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit … Das deutsche Grundgesetz bietet alles, was das Herz des Menschenrechtlers begehrt. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten seinerzeit jedoch eine andere Welt vor Augen als die, in der wir heute leben.
Damals bedeutete Meinungsfreiheit noch, dass man abends am Stammtisch seine Meinung sagen und ab und zu einen Leserbrief schreiben durfte. Heute dagegen kann jeder pro Minute mehrfach seine Meinung in die Welt hinaustwittern. Die Frage, die sich dann stellt, ist weniger: Wie ist die Freiheit der Meinungsäußerung zu gewährleisten? Sondern: Wie sind Meinungen von Fakten zu trennen? Wo geht Meinungsfreiheit in Hate Speech über? Und: Wie lässt sich Letzterer zurückdrängen?
In vielen Ländern sind in letzter Zeit Anstrengungen zur Eindämmung von Fake News und Hate Speech unternommen worden. Dabei treten jedoch schnell zwei Probleme auf: Zum einen wird im Falle der Verlagerung der Verantwortung für menschenverachtende Posts in den Bereich der Social-Media-Unternehmen auch die Deutungshoheit für die Grenzen der Meinungsfreiheit in deren Hände gelegt. Zum anderen besteht die Gefahr, dass bei der Bemühung um die Einschränkung von Fake News übers Ziel hinausgeschossen wird und auch unliebsame, kritische Posts gelöscht werden.
In beiden Fällen ist das Ergebnis eine Form von Zensur – die ja laut Grundgesetz (Artikel 5) ’nicht stattfindet‘. Diese Zensur ist deshalb besonders gefährlich, weil ihre Grundlagen intransparent sind. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Sperrung von Twitter-Accounts durch das Unternehmen, mit der allgemeinen Begründung einer unzulässigen Beeinflussung des Europawahlkampfs. Die Kriterien für die Entscheidungen sind dabei völlig undurchschaubar, die Sperrungen treffen PolitikerInnen ebenso wie einfache User, und zwar jeweils ohne dass klargemacht wird, was den Betreffenden konkret vorgeworfen wird (4).
An dieser Stelle erscheint also eine Anpassung der Verfassung an die digitale Welt notwendig. Sie müsste deutlich machen, dass der Staat die Oberhoheit über die Definition von Meinungsfreiheit behält und auch global agierende Unternehmen die Kriterien für die Freischaltung oder Löschung von Inhalten mit den staatlichen Stellen abzustimmen haben.
Das Beispiel zeigt zugleich, dass nationalen Verfassungen in Zeiten von Globalisierung und digitaler Vernetzung enge Grenzen gesetzt sind. Sie müssen deshalb durch die Verankerung von Menschenrechten in multilateralen Vereinbarungen flankiert werden.
Fazit: Unsere Verfassung ist wie ein altes Haus. Hier und da muss es umgebaut werden, an manchen Stellen sind Modernisierungen erforderlich, die Mauern brauchen einen neuen Anstrich. Die schönsten Renovierungsarbeiten nützen allerdings nichts, wenn wir das Haus nur von außen betrachten, statt aus seinem Innern heraus zu agieren.
Weiterführende Links:
- Walter, Franz: Schaden des Parteienstaates. In: Frankfurter Rundschau vom 19. Oktober 2011; weitere Links in RB: Volks- oder Parteienherrschaft? Wie der Parteienstaat die Demokratie untergräbt.
- Ising, Hartmut: / Kruppa, Barbara: Zum gegenwärtigen Erkenntnisstand der Lärmwirkungsforschung: Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels. In: Umweltmed Forsch Prax 6 (2001), S. 1 – 9 (online abrufbar über http://www.fluglaerm-taunus.de/Laermwirkungsforschung.pdf); weitere Links in RB: Die Freiheit des Rasenmähenden. Lärm als verfassungsrechtliches Problem.
- Solomon, Norman: Die Ramstein-Drohnenbasis und der Nonstop-Krieg.org, 26. Juli 2016; amerikan. Original erschienen in The Nation (7. Juli 2016); Übersetzung ins Deutsche von Hendrik Obelöer; weitere Links in RB: Der alltägliche Krieg. Militarismus in Deutschland.
- Greis, Friedhelm: Politiker empört über Account-Sperrungen bei Twitter; golem.de, 13. Mai 2019
- Rotherbaron: Das morsche Haus der Demokratie
- Ders: Gewaltenteilung: Nein Danke
Bild: Imagine_images: Wände (Pixabay)
Das sind überaus wichtige und richtige Gedanken. Das Grundgesetz war zweifellos ein Meilenstein nach der Nazi-Diktatur. Aber es stimmt: Es muss modernisiert werden und die angesprochenen Probleme kann man nicht vom Tisch wischen. Ein Problem, das wir heute spüren ist, dass man die Wiedervereinigung nicht genutzt hat, eine gemeinsame Verfassung für Ost und West zu schaffen, Diskussionsforen einzurichten, die Ostdeutschen mitzunehmen. Diese haben zu einem gewissen Teil keine Bindung an dieses Grundgesetz. Es ist für sie eine „westdeutsche Debatte“ wie so Vieles.
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