Plädoyer für eine neue Internationale.
In diesem Jahr feiert der Tag der Arbeit seinen 100. Geburtstag. Die Gewerkschaftsbewegung ist also schon eine recht alte Dame. Sie blickt auf ein Leben voller großer Erfolge zurück, ist aber auch erkennbar altersmüde. Zeit, zu neuen Ufern aufzubrechen …
Zyniker könnten in der Geschichte der Arbeiterbewegung ein schönes Beispiel für die Funktionsweise dialektischer Prozesse sehen, also für jenen Widerstreit von These und Antithese bzw. allgemein widerstreitender Kräfte, die sich am Ende in einer neuen Synthese auflösen.
Produktionsmittelbesitzer kontra Arbeitskraftanbieter
Am Anfang der Arbeiterbewegung stand die Erkenntnis eines krassen Gegensatzes: dem zwischen den Besitzern der Produktionsmittel und den Anbietern der Arbeitskraft, die zur Nutzung der Produktionsmittel benötigt werden. Tendenziell sind die Besitzer der Produktionsmittel dabei im Vorteil. Zwar können sie Letztere nicht oder – abhängig von dem Grad der Automatisierung der Produktionsprozesse – nur eingeschränkt nutzen, wenn sie keine Arbeitskraft einkaufen. Da jedoch die Menge der Produktionsmittel begrenzt ist, während die Arbeitskraft relativ leicht vermehrbar ist, lässt sich über den Besitz der Produktionsmittel der Wert der Arbeitskraft bis zu einem gewissen Grad steuern.
So kann man einzelne Gruppen gegeneinander ausspielen, indem man insbesondere für eine „industrielle Reservearmee“ von Arbeitslosen sorgt, durch die sich aufmüpfige Arbeiter notfalls ersetzen lassen. Man kann die Arbeitskraft anderswo einkaufen, wenn sie einem daheim zu teuer erscheint, oder man droht schlicht mit der Einstellung des Betriebs. Denn Besitzer von Produktionsmitteln müssen diese nur so lange einsetzen, bis sie genügend Vermögen akkumuliert haben. Arbeiter verdienen mit ihrer Arbeitskraft dagegen in der Regel nicht genug, um sich zur Ruhe setzen zu können, wenn deren Einsatz nicht mehr lukrativ ist.
Die Folgerungen, die hieraus im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung ihrem Höhepunkt entgegensteuerte, gezogen wurden, waren naheliegend: Kurzfristig mussten die Arbeiter sich zusammenschließen, um durch die Koordination ihrer Kräfte ihre Interessen besser gegenüber den Besitzern der Produktionsmittel durchsetzen zu können. Langfristig musste der die Ausbeutung der Arbeiter ermöglichende strukturelle Gegensatz von Produktionsmitteln und Arbeitskraft aufgehoben werden.
Kommunistischer Arbeiteradel
Bekanntlich hat es unterschiedliche Ansätze gegeben, diese Ziele zu erreichen. In den realsozialistischen Ländern sind die Produktionsmittel schlicht verstaatlicht worden, verbunden mit der Behauptung, dass sie nun in der Hand des Proletariats seien. Daraus ergab sich die Fiktion, dass die Arbeiter ihre Arbeitskraft für sich selbst einsetzen würden, da sie die eigentlichen Besitzer der Produktionsmittel seien, der Staat diese also nur für sie verwalte. Die Folge war, dass die Ausbeutungsmechanismen sich noch verfeinerten, da etwaige Streiks sich damit theoretisch gegen die Streikenden selbst gerichtet hätten. Eine Erhöhung von Arbeitsnormen durch den Staat, eine Kürzung von Sozialleistungen oder Reallohnverluste hatten folglich klaglos hingenommen zu werden.
Kapitalistischer Arbeiteradel
In den kapitalistischen Ländern entwickelte sich mit der Zeit ein reiches Instrumentarium an Regeln für Tarifauseinandersetzungen und für die Mitbestimmung der Arbeiter. Dabei geriet das, was ursprünglich der Durchsetzung der eigenen Interessen gedient hatte, allerdings zum Hemmschuh: die Organisation in Gewerkschaften. Denn es waren und sind ja nicht die konkreten Arbeiter vor Ort, die mit den Arbeitgebern am Verhandlungstisch und in den Aufsichtsräten sitzen. Vielmehr sind diese dort stets nur indirekt vertreten, über die Repräsentanten der Gewerkschaft.
Dieses System führt in zweierlei Hinsicht zu Problemen. Zum einen entfremden die Arbeiterführer sich durch die Nähe zu den eigentlichen Besitzern der Produktionsmittel mit der Zeit von ihren Wurzeln. Die vielen gemeinsamen Sitzungen mit den Managern und die Annehmlichkeiten, die mit einer Teilhabe an der Sonnenseite der Vorstandsetagen verbunden sind, führen dazu, dass die Perspektive der Arbeitgeberseite zunehmend auch ihr Denken bestimmt. Bei Tarifauseinandersetzungen spielen sie den aufgebrachten Volkstribun dann nur noch, um bei den Arbeitern Eindruck zu schinden und so die eigene Machtbasis zu sichern. Denn diese hängt natürlich von der Zahl der Gewerkschaftsmitglieder ab.
Zum anderen bedeutet eben dies aber auch, dass Gewerkschaftsführer sich in ihrer Arbeit auf diejenigen konzentrieren, die mit ihrer Arbeitskraft Geld verdienen. Wenn sie, indem sie deren Position verbessern, damit jenen schaden, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, so stört sie das nicht. Es ist ihnen im Zweifelsfall lieber, dass ein bei ihnen organisierter Beschäftigter das Doppelte verdient, als dass für das Geld ein weiterer Arbeiter eingestellt wird.
Damit aber befeuern die Gewerkschaften die Ausweitung des Gegensatzes zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen. Dies widerspricht nicht nur dem Kern des Gewerkschaftsgedankens, der Solidarität unter allen Arbeitskraftanbietern. Die Förderung einer Zweiklassengesellschaft unter diesen führt auch zu einem Ausbau des Niedriglohnsektors und zu einer Ausweitung der industriellen Reservearmee, schadet also langfristig auch den Interessen der Arbeitskraftbesitzer. Dem Gewerkschaftsführer, der im Hier und Heute seine Macht absichern möchte, ist das jedoch in der Regel gleichgültig. Nichts illustriert dies besser als die explizite Verteidigung der Hartz-IV-„Reformen“ durch DGB-Chef Reiner Hoffmann (vgl. Rippert 2018). Dass der Niedriglohnsektor, aus dem skrupellose Arbeitgeber die Gewerkschaften gezielt heraushalten, durch die Agenda-Politik gefördert wird, ist ihm egal, solange seine eigenen Schäfchen genug zu fressen bekommen.
Solidarität in Zeiten neuer Arbeitssklaverei
So hat die Arbeiterbewegung ihr ursprüngliches Ziel, den strukturellen Gegensatz zwischen Besitzern von Produktionsmitteln und Anbietern von Arbeitskraft einzuebnen, gleichzeitig erreicht und verfehlt. Sie hat es erreicht, weil es ihr sowohl in den realsozialistischen als auch in den kapitalistischen Ländern gelungen ist, über den Einsatz der Produktionsmittel und die Verwendung des mit ihnen zu erzielenden Gewinns mitzubestimmen. Sie hat ihr Ziel aber zugleich verfehlt, weil in beiden Fällen eine neue Kaste von Herrschenden entstanden ist, ein „Arbeiteradel“, der das alte Machtverhältnis in neuer Form restituiert hat.
Was wir bräuchten, wäre also eine neue Form von Solidarität. Eine Solidarität, die sich nicht mehr nur auf die Besitzer der klassischen Arbeitsplätze mit ihren diversen Privilegien beziehen würde, sondern genauso jene umfassen würde, die als Scheinselbständige, Gelegenheitsarbeiter, Clickworker, Honorarkräfte, ausländische Billiglohnkräfte, mit Aufwandsentschädigungen abgespeiste Ehrenamtliche oder als HausarbeitssklavInnen draußen vor der Tür der schönen Arbeiterrechtsbewegung stehen.
Solidarität mit anderen zu zeigen, hat schon immer auch bedeutet, dass man bereit ist, Opfer für andere zu bringen; dass man also nötigenfalls auch auf eigene Privilegien verzichtet, zumal wenn diese dazu dienen, Teile der Beschäftigten gegeneinander auszuspielen. Niemand bringt jedoch Opfer aus theoretischen Erwägungen. Es braucht dafür einen bestimmten „Spirit“, eine Euphorie, die einem das Gefühl gibt, Teil einer größeren Bewegung zu sein, für die es sich lohnt, Opfer zu bringen.
Russische Gewerkschaftsekstase
Dies lässt mich an die beeindruckende Version des alten Gewerkschaftsohrwurms There is power in a union denken, die die russische Band Arkadij Kots – der Name ist eine Reminiszenz an den ersten russischen Übersetzer der Internationalen – aufgenommen hat. Ich bin mir nicht sicher, ob der Enthusiasmus, mit dem das Lied hier gesungen wird, ernst gemeint ist. Angesichts des speziellen russischen Humors ist es durchaus auch vorstellbar, dass die Band mit ihrem ekstatischen Gesang die steife Art und gespielte Aufgeregtheit heutiger Gewerkschaftsführer bloßstellen möchte. Dennoch ist in der Ausgelassenheit, mit der hier klassische Gewerkschaftsideale vorgetragen werden, jenes Feuer zu spüren, das wir bräuchten, um einen neuen Anlauf für den Aufbau einer gerechteren Welt zu nehmen.
Arkadij Kots: Nascha sila – v profsojusje (Liedtext von Joe Hill, 1913, neue Fassung von Billy Bragg, 1986); aus: Musyka dlja rabotschevo klassa (Musik für die Arbeiterklasse (2016)
Übersetzung der russischen Fassung:
Unsere Kraft liegt in der Gewerkschaft
Maschinen sind mächtig, die Erde ist mächtig,
und auch in den Händen der Arbeiter liegt Macht.
Aber diese Macht hilft uns nicht, wenn wir uns nicht einig sind.
Unsere Macht liegt in der Gewerkschaft!
Ihr, Bosse und Bankiers, seid ständig auf dem Holzweg,
aber ihr stempelt uns dafür zu Schuldigen.
In dreckige Kriege schickt ihr uns, jawohl!
Krieg führen für die Bosse – das ist euer liebstes Geschäft.
Nur die Gewerkschaft übt niemals Verrat!
Nieder mit den Streikbrechern – hoch die Solidarität!
Brüder und Schwestern im ganzen Land:
Unsere Macht liegt in der Gewerkschaft!
Ich weiß, eines Tages werden alle Herren begreifen:
Weder Kugeln noch Gesetze können uns zerstören.
Aber wer sagt Nein, wenn sie ihre Lakaien aussenden,
um uns zu kaufen?
Geschäftsleute haben eine Stimme, Teufel haben eine Stimme,
aber wer gibt dem einfachen Menschen eine Stimme?
Wer verteidigt die Witwen, wer unterrichtet die Kinder?
Unsere Macht liegt in der Gewerkschaft
Ja, nur die Gewerkschaft übt niemals Verrat …
Nachweis zu Reiner Hoffmann:
Rippert, Ulrich: DGB-Chef Hoffmann verteidigt Hartz-IV-Reformen. World Socialist Website, 29. November 2018.
Ein Kommentar