Zur gesellschaftlichen Verantwortung von Gewerkschaften
Gewerkschaften sind dazu da, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten. Heutzutage kommt ihnen jedoch auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu. Nur wenn sie dieser gerecht werden, können sie langfristig überleben.
Das Glatteis der Interessenvertretung
Ethische Verantwortung von Gewerkschaften
Arbeitszufriedenheit und Berufsethos
Hippokratischer und sokratischer Eid
Berufsethos und ziviler Ungehorsam
Gesamtgesellschaftliche Verantwortung von Gewerkschaften
Verantwortung der Gewerkschaften in Kriegszeiten
Erinnerung an Jean Jaurès: ein Chanson von Jacques Brel
Das Glatteis der Interessenvertretung
Ein zentrales Element der kapitalistischen Wirtschaft ist es, dass darin auch die Arbeitskraft wie eine Ware gehandelt wird. Diejenigen, die ihre Arbeitskraft am Markt anbieten, versuchen dabei einen möglichst hohen Preis für ihre „Ware“ zu erzielen und eine möglichst geringe Menge davon einbringen zu müssen. Diejenigen, die Arbeitskraft einkaufen, versuchen dagegen, möglichst viel Ware für einen möglichst geringen Preis zu erhalten.
In dem so entstehenden Interessenkonflikt erhalten die Anbieter von Arbeitskraft Unterstützung von den Gewerkschaften, die ihre Interessen gegenüber den Repräsentanten der anderen Seite vertreten.
Dies klingt einfacher, als es sich zunächst anhört. Denn die Gewerkschaften müssen bei den entsprechenden Verhandlungen stets auch das Wohl der Einkäufer von Arbeitskraft im Blick haben. Stellen sie zu hohe Forderungen, laufen sie Gefahr, Betriebe in die Pleite zu treiben bzw. sie ungewollt zu Rationalisierungs- oder Automatisierungsbemühungen zu veranlassen. In beiden Fällen müssen die Beschäftigten kurzfristige Verbesserungen mit langfristigen Nachteilen und ggf. sogar dem Verlust des Arbeitsplatzes bezahlen.
Ethische Verantwortung von Gewerkschaften
Noch komplizierter stellt sich die Lage dar, wenn es um Beschäftigte geht, die in ihren Tätigkeitsfeldern eine besondere Verantwortung für die Menschen haben, mit denen sie dabei in Kontakt kommen – wenn die Arbeitskraft also nicht zur Herstellung bestimmter Produkte eingesetzt wird, sondern für bestimmte Formen des Umgangs mit anderen Menschen. Dies gilt etwa für Beschäftigte im pflegerischen, medizinischen, erzieherischen und pädagogischen Bereich.
Wenn hier über Arbeitsbedingungen verhandelt wird, geht es nicht nur um Pausenregelungen, Dienstkleidung oder Urlaubszeiten. Vielmehr müssen dabei jeweils auch die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf diejenigen berücksichtigt werden, mit denen die Beschäftigten in ihren jeweiligen Bereichen zu tun haben.
Der Grund dafür ist zunächst ethischer Natur und lässt sich gut in dem Begriff „Schutzbefohlene“ zusammenfassen. Das heute etwas altmodisch klingende Wort bringt eine einfache Wahrheit zum Ausdruck: dass sich nämlich eine Person dem Schutz einer anderen Person „anbefiehlt“, indem sie sich in ihre Obhut begibt. Daraus ergibt sich folglich eine besondere Verantwortung der einen für die andere Person.
Arbeitszufriedenheit und Berufsethos
Der zweite Grund für diesen weiter gefassten Blick auf die Arbeitsbedingungen betrifft allerdings auch die eigene Arbeitszufriedenheit. Eine Pflegerin, die mehr Zeit für die Versorgung der ihr anvertrauten Menschen hat, die nicht bei jeder noch so kurzen Unterhaltung auf die Uhr schauen muss, wird auch eine größere Befriedigung bei ihrer Arbeit empfinden. Gleiches gilt für den Arzt, der sich genug Zeit für ein ausführliches Anamnesegespräch nehmen kann.
Nicht immer ist es allerdings so einfach. Es sind durchaus auch Fälle denkbar, in denen die Interessen der „Schutzbefohlenen“ mit denen der Beschäftigten kollidieren.
Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wo hier Kompromisse möglich sind und in welchen Fällen die Bedürfnisse der Menschen, für die und mit denen gearbeitet wird, unbedingten Vorrang haben, ist daher ein spezifisches Berufsethos erforderlich.
Im medizinischen Bereich ist dieses Ethos durch den hippokratischen Eid besonders ausgefeilt (1). Dieser legt fest, welche grundsätzlichen Einstellungen und Verhaltensweisen im Umgang mit den Kranken unverzichtbar sind und welche grundlegenden ethischen Standards bei Diagnose und Therapie gelten sollten. Er liefert so einen Maßstab für das, was in Rahmenvereinbarungen für die Beschäftigten im Gesundheitsbereich als hinnehmbar gelten kann und was nicht.
Hippokratischer und sokratischer Eid
Auch im pädagogischen Bereich lassen sich Formen eines Berufsethos ebenfalls bis weit in die Vergangenheit hinein zurückverfolgen (2). Es gibt aber auch aktuellere, auf die heutige Situation bezogene Überlegungen zu einem pädagogischen Berufsethos.
Eine ausführliche Begründung für dessen Notwendigkeit haben etwa Annedore Prengel, Friederike Heinzel, Sandra Reitz und Ursula Winklhofer in ihren „Reckaner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ vorgelegt. Die Autorinnen formulieren dabei auch konkrete Leitlinien für ethisch zulässiges und unzulässiges pädagogisches Verhalten (3). Ebenso hat die Bildungsinternationale (Education International), eine etwa 400 Gewerkschaften aus 170 Ländern umfassende Dachorganisation, 2004 einen detaillierten Entwurf für ein pädagogisches Berufsethos vorgelegt (4).
Auch Analogiebildungen zum hippokratischen Eid hat es bereits gegeben. So hat Hartmut von Hentig, Mitbegründer der Bielefelder Laborschule, einen „sokratischen Eid“ für die pädagogische Arbeit entwickelt (5). Dieser betont die besondere Verantwortung der in diesem Bereich Tätigen für die körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit der ihnen anvertrauten Kinder. Im Mittelpunkt aller pädagogischen Arbeit muss demnach die Persönlichkeit des einzelnen Kindes oder Jugendlichen stehen. An deren spezifischer Struktur und Entwicklungslogik sind alle Angebote für eine Unterstützung der Lernprozesse auszurichten.
Daraus folgt auch, dass pädagogische Arbeit immer ein dialogischer Prozess sein sollte. Nicht Befehl und Gehorsam oder ein Input-Output-Denken sollten den Umgang mit den Kindern und Jugendlichen bestimmen, sondern die Kategorie der Empathie, des Sich-Hineinfühlens in die geistige Entwicklung von anderen, und der ergebnisoffene Dialog über die jeweiligen Lehr-/Lernprozesse.
Berufsethos und ziviler Ungehorsam
Wie im Falle des hippokratischen Eids lassen sich auch durch den sokratischen Eid Grenzen definieren, deren Übertretung nicht mit dem Berufsethos vereinbar ist. Sollten sich pädagogisch Verantwortliche durch Arbeitsstrukturen und Dienstanweisungen oder die verschiedenen Formen von in- und externem Gruppendruck dennoch zu einer solchen Übertretung getrieben sehen, müssen sie ggf. auch bereit sein, Maßnahmen des zivilen Ungehorsams zu ergreifen.
Dies muss noch nicht einmal mit einer offenen Verweigerungshaltung einhergehen. Manche Vorgaben lassen sich auch einfach kreativ deuten und so umsetzen, dass sie den eigenen Idealen näherkommen (6). So manche Reformschule, die heute auch von Schulbehörden als Leuchtturmprojekt gefeiert wird, hat ihren Ursprung in einer solchen Form von kreativer Gehorsamkeitsauslegung.
Der Widerstand gegen nicht mit dem eigenen Gewissen vereinbare administrative Vorgaben dient dabei nicht nur den Schutzbefohlenen. Er ist vielmehr auch im ureigenen Interesse der Beschäftigten. Dies gilt für den hippokratischen ebenso wie für den sokratischen Eid.
Wer Kindern zu einem selbstbestimmten, auf ihre eigenen Bedürfnisse abgestimmten Lernen verhilft, wird durch die höhere Zufriedenheit der Kinder auch selbst zufriedener sein mit der eigenen Arbeit. Die Selbstorganisation der Lernprozesse vermindert zudem langfristig den Vorbereitungsaufwand und beugt Unterrichtsstörungen vor, die ja oft nichts anderes sind als ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit der eigenen Lernsituation.
Gesamtgesellschaftliche Verantwortung von Gewerkschaften
Das gewerkschaftliche Berufsethos bezieht sich zwar zunächst auf die Verantwortung für die Schaffung eines humanen Arbeitsumfelds, von dem Beschäftigte wie Schutzbefohlene gleichermaßen profitieren. In einem weiter gefassten Sinne umfasst es jedoch auch die Verantwortung für die gesellschaftlichen Folgen, die sich aus den jeweils ausgeübten Tätigkeiten ergeben.
Im pädagogischen Bereich ist das unmittelbar einleuchtend. Hier geht es darum, allen Versuchen der Indoktrination und Propaganda – sei es von regierungsoffizieller Seite, sei es durch die Wirtschaft – zu widerstehen und den Lernenden zu einem kritischen, ergebnisoffenen Denken zu verhelfen.
In anderen Bereichen ist eine Folgenabschätzung jedoch oft weniger leicht zu bewerkstelligen. Schließlich sind die Beschäftigten in Industrie und Dienstleistungssektor jeweils nur Teil eines größeren Räderwerks, das weder sie noch ihre Interessenvertretungen ohne weiteres umpolen können.
Dennoch ist es auch hier möglich, etwa auf nachhaltigere Produktionsabläufe und ein umweltverträgliches Rohstoffmanagement zu drängen. Wo es sich um weiterverarbeitende Betriebe handelt, sollte das gewerkschaftliche Berufsethos sich zudem auch auf das Engagement für humane Arbeitsbedingungen in den Erzeugerländern erstrecken.
Zuweilen sind die Folgen einer Tätigkeit bzw. der hergestellten Produkte allerdings auch situationsabhängig. Vieles, was auf den ersten Blick unproblematisch wirkt, erscheint bei einem Blick auf die praktische Anwendung der Produkte in einem differenzierteren Licht.
Das beste Beispiel dafür sind Dual-Use-Güter, die sowohl im Rahmen industrieller Fertigung genutzt werden können als auch in der Waffenherstellung eine wichtige Rolle spielen. Dabei handelt es sich häufig um auf den ersten Blick unverdächtige, unscheinbare Kleinstprodukte, etwa aus der Telekommunikationsbranche. Hier entscheidet das jeweilige gesellschaftspolitische Umfeld darüber, ob und in welchem Ausmaß die Beteiligung an der Herstellung der entsprechenden Produkte problematisiert werden muss.
Verantwortung der Gewerkschaften in Kriegszeiten
Schon in der Frühzeit der Arbeiterbewegung forderte Jean Jaurès (1859 – 1914), Anfang des 20. Jahrhunderts Präsident der französischen Sektion der Internationalen Arbeiterbewegung und Mitbegründer der Sozialistischen Partei Frankreichs, auf Krieg und Kriegsvorbereitungen mit einem länderübergreifenden Generalstreik zu reagieren. Die Solidarität der Beschäftigten sollte den aggressiven Imperialismus der Regierungen in die Schranken weisen.
Hintergrund dieser Überlegung ist nicht nur das allgemeine Leid, das der Krieg über die Völker bringt. Vielmehr ist der Krieg stets auch die äußerste Form der Ausbeutung. Er zwingt die Beschäftigten nicht nur, mit ihrer Tätigkeit zur Tötung von Menschen jenseits der Grenze beizutragen, an die Stelle der internationalen Solidarität also einen Nationalismus zu setzen, der ihren Interessen zuwiderläuft. Vielfach werden sie auch unmittelbar als Kanonenfutter eingesetzt, um mit dem Opfer ihres Lebens die Durchsetzung fremder Interessen zu ermöglichen.
Die traurige Wahrheit ist allerdings: Der Vorschlag von Jaurès war weder in der sozialistischen noch in der internationalen Arbeiterbewegung mehrheitsfähig (7). Stattdessen haben sich 1914 auch viele Arbeiter vom allgemeinen Hurra-Patriotismus anstecken lassen und sind voller Euphorie in den Krieg gegen jene gezogen, mit denen sie sich gestern noch auf die internationale Solidarität eingeschworen hatten.
Jaurès selbst, schon vor 1914 ein Hassobjekt aller Nationalisten, wurde buchstäblich am Vorabend des Krieges (am 31. Juli 1914) mitten in Paris von einem nationalistischen Fanatiker erschossen. Im Siegestaumel nach dem Krieg wurde dessen Tat auch noch mit einem Freispruch quasi öffentlich geadelt.
Erinnerung an Jean Jaurès: ein Chanson von Jacques Brel
So soll dieser Erste Mai auch genutzt werden, um an Jean Jaurès zu erinnern, der wie kaum ein anderer die unauflösliche Verbindung von Pazifismus und internationaler gewerkschaftlicher Solidarität herausgestellt hat. Dazu dient an dieser Stelle ein Chanson von Jacques Brel, in dem das tragische Ende von Jaurès vor dem Hintergrund des düsteren Alltags abhängig Beschäftigter jener Zeit beschworen wird. Deutlich wird dabei: Die Ermordung von Jaurès war zugleich ein Stich ins Herz der Arbeiterbewegung.
Jacques Brel: Jaurès
Mit 15 waren sie schon verbraucht,
im Anfang war ihr Leben schon vorbei,
jeder Monat war ein Wintermonat.
Zwischen Absinth und hohen Feiertagen
sind sie gealtert, ohne jung zu sein.
Fünfzehn Stunden täglich an der Leine
färbten ihr Gesicht zu Asche.
Ja, lieber Gott, so lebten unsere Vorfahren.
Warum haben sie Jaurès getötet?
Warum haben sie Jaurès getötet?
Nein, sie waren keine Sklaven.
Aber konnten sie ihr Leben leben?
Wer einmal so bezwungen wurde,
nimmt seine Fesseln überallhin mit.
Und dennoch blühte die Hoffnung auf
im funkelnden Blick der Verweigerer,
die nicht zu Kreuze kriechen wollten,
bis der Tod sie niederzwang.
Ja, Herr im Himmel, lieber Gott:
Warum haben sie Jaurès getötet?
Wenn das Unglück sie überleben ließ,
so nur, um in den Krieg zu ziehen
und im Krieg zu sterben
unter hohlen Haudegenphrasen.
Das Feld der Ehre wurde für sie
zum Feld einer schrecklichen Leere,
das ihre Jugend vor der Zeit verschlang.
Die Kehlen von Angst verschnürt,
lieber Gott, so starrten sie ins Nichts,
so nahm das wuchernde Gras sie auf.
Lass, stolze Jugend, für einen Augenblick
den Schatten der Erinnerung, den Hauch
dich eines stummen Seufzers streifen:
Warum haben sie Jaurès getötet?
Warum haben sie Jaurès getötet?
Jacques Brel: Jaurès; aus: Brel (1977)
Nachweise
- Auf der Basis der ursprünglichen Fassung des hippokratischen Eides hat der Weltärztebund ein ärztliches Gelöbnis entworfen, das 2018 in einer revidierten Fassung als Deklaration von Genf vorgelegt worden ist: Vgl. Aerztezeitung.at: Deklaration von Genf: Hippokrates und das ärztliche Gelöbnis; 10. März 2018.
- Vgl. Ofenbach, Birgit: Geschichte des pädagogischen Berufsethos. Rahmenbedingungen für Lehrerhandeln von der Antike bis zum 21. Jahrhundert. Würzburg 2006: Königshausen & Neumann.
- Vgl. Heinzel, Friederike / Prengel, Annedore / Reitz, Sandra / Winklhofer, Ursula: Reckaner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen (PDF). Reckan 2017: Rochow-Edition.
- Vgl. Education International: Declaration on Professional Ethics; 23. Juli 2004; updated 31. März 2017.
- Vgl. Hartmut von Hentig (1993): Der Sokratische Eid der Pädagogen. In: Ders. Die Schule neu denken, S. 246 f. München 1993: Hanser.
- Vgl. Stähling, Reinhard / Wenders, Barbara: Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle. Baltmannsweiler 2009: Schneider Hohengehren. Auf der Website von Reinhard Stähling, der als Schulleiter an der Münsteraner PRIMUS-Schule Berg Fidel selbst lange Jahre erfolgreich pädagogischen Ungehorsam praktiziert hat, gibt es eine Sammlung aufschlussreicher Rezensionen und teils ausführlicher Würdigungen anderer Inklusionsforscher zu dem Buch. Die Grundschule Berg Fidel hat Hella Wenders in einer berühmten Filmdokumentation eindrucksvoll porträtiert: Berg Fidel – eine Schule für alle (2011). In einem Interview berichtet die Filmemacherin über ihre Motive für das Projekt und über die Erfahrungen, die sie während der Arbeit gemacht hat.
- Vgl. Fattmann, Rainer: Auf dem Weg in den Abgrund: Die internationale Arbeiterbewegung und der Erste Weltkrieg. Gegenblende.dgb.de, 16.06.2014.
Bild: DGB-Plakat zum Ersten Mai 1949
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