Nordische Musikkulturen: Musikalische Sommerreise 2019, 3. Etappe
Die Menschen auf den Färöern sind ein ausgesprochen sangesfreudiges Völkchen. Ständig hat jemand ein Lied auf den Lippen, und abends sitzen meist irgendwo Leute zusammen und feiern das Leben mit ihrem Gesang. Dabei sind sie erstaunlich treffsicher, was Töne und Worte anbelangt. Radioberieselte Großstädter, die allenfalls die gegrölten Fangesänge aus den Fußballstadien beherrschen, können da nur ehrfürchtig zuhören. Woher kommt diese enge Beziehung der Färinger zu Musik und Gesang?
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Sangesfreudige Färinger
Gesang als identitätsstiftendes Element der Kultur
Musik als Zeitvertreib
Die Natur zum Sprechen bringen
Mit den Vögeln singen
Links und Nachweise
Songs mit Übersetzungen:
Orka: Aldan reyð
Marius Ziska: Nærvera
Høgni Reistrup: Vit vita at so er
Sangesfreudige Färinger
Da wären wir nun also auf den Färöern. Es ist deutlich wärmer, als ich gedacht hätte – ich hatte den Golfstrom vergessen, der das Eiland umfließt und für vergleichsweise milde Temperaturen sorgt. Was mich ein wenig stört, sind die ständigen Wetterkapriolen. Kaum hat man sich ein wenig in die Sonne gesetzt, an einen windgeschützten Platz zwischen den Klippen, wo die meerwassergesättigte Luft einem eine wohlige Hautmassage verpasst, ziehen Wolken auf. Und wenn man sich dann, aus Angst vor dem erwarteten Wolkenbruch, unter den Felsen verkriecht, kann man sicher sein, dass die Wolken wieder aufreißen und einen aus der Grotte hervorlocken – bis das Hase- und-Igel Spiel wieder von vorne beginnt.
Auffallend ist auch, dass die Färinger ausgesprochen gerne singen. Ständig hat jemand ein Lied auf den Lippen, und abends sitzen meist irgendwo Leute zusammen und feiern das Leben mit ihrem Gesang. Dabei sind sie erstaunlich treffsicher, was Töne und Worte anbelangt. Radioberieselte Großstädter, die allenfalls die gegrölten Fangesänge aus den Fußballstadien beherrschen, können da nur ehrfürchtig zuhören. Woher kommt diese enge Beziehung der Färinger zu Musik und Gesang?
Gesang als identitätsstiftendes Element der Kultur
Bemühungen, die färöische Sprache schriftlich zu fixieren, wurden erst Ende des 18. Jahrhunderts unternommen. Davor war es jahrhundertelang üblich, das eigene Sprach- und Kulturgut ganz traditionell in Form von Balladen weiterzugeben. Diese wurden gemeinsam gesungen, wobei das einende Band des Gesangs noch zusätzlich durch spezielle, reigenartige Kettentänze verstärkt wurde. Bis heute sind die entsprechenden Brauchtümer lebendig. Höhepunkt der Tanz- und Gesangsfeierlichkeiten ist der Nationalfeiertag Ólavsøka (28./29. Juli), an dem in der Inselhauptstadt Tórshavn Insulaner und unzählige Gäste die färöische Kultur feiern.
Hinzu kommt, dass die Musik der Färöer klassischerweise ohne Instrumente auskommen musste. Diese haben erst vor etwa 150 Jahren auf den Inseln Verbreitung gefunden. Auch dadurch liegt ein stärkerer Akzent auf dem Gesang, der feiner intoniert und mit der Kunst der Mehrstimmigkeit verbunden werden musste, um den sonst mit Hilfe der Instrumente bewirkten Nuancenreichtum zu erreichen.
Zwar hat Dänemark, das noch immer die Oberhoheit über die (mit weitreichenden Autonomierechten ausgestatteten) Färöer ausübt, längst seine frühere Assimilierungspolitik aufgegeben. Mittlerweile steht es den Färingern frei, ihre Sprache und Kultur an den Schulen und der Universität in Tórshavn zu pflegen und im Alltag zu leben. Bei einer Bevölkerungszahl von 51.371 Menschen (Stand Januar 2019) bleibt jedoch stets die Angst, irgendwann den uniformierenden Tendenzen der Globalisierung nicht mehr standhalten zu können. So dienen der gemeinsame Gesang, aber auch das Komponieren neuer färöischer Lieder auch heute noch explizit dem Ziel, die eigene Sprache lebendig zu halten.
Musik als Zeitvertreib
Erst 1985 hat das Fernsehen auf den Färöern Einzug gehalten. Was sollte man vorher also tun an den endlosen Winterabenden und den langen Sommertagen? Mit den Schafen blöken? Dem ewig brüllenden Meergott lauschen? Nein, dann doch lieber mal selber was produzieren, die eigene Kreativität ausleben. Auch dies ist ein Grund dafür, dass gemeinsames Singen und Musizieren auf den Färöern bis heute eine so große Rolle spielt.
Auf diese Weise sind zahlreiche Musikclubs, Proberäume und Musikgruppen entstanden, aber auch das international bekannte G!-Musikfestival in der Bucht von Syðrugøta und sogar ein eigenes Musiklabel (Tutl). Mit Letzterem möchte Kristian Blak, der als Mitglied der Folk-Band Kvonn und der Ethnojazz-Gruppe Yggdrasil auch selbst als Musiker aktiv ist, jungen MusikerInnen ein professionelles Umfeld bieten, wo sie in eigenen Studios und mit eingespielten Vertriebswegen entsprechend gefördert werden.
Die Natur zum Sprechen bringen
Immer wieder verweisen färöische Musiker auf die besondere Rolle, die der enge Bezug zur Natur für ihr Schaffen hat. So betont etwa der Singer-Songwriter Marius Ziska die Notwendigkeit eines naturbelassenen Ortes für sein kreatives Arbeiten – eines Ortes, an dem „das Meer und die Bäume“ im Vordergrund stehen: „Die Bäume und das Meer singen die ganze Zeit für dich. Du musst das nur wahrnehmen und in der richtigen Umgebung sein, um darauf reagieren zu können “ (1).
Auch Jens Thomsen von der Band Orka – was auf Färöisch so viel wie „Energie“ bedeutet – möchte mit seiner Musik die „Atmosphäre“ und den „Klang des Raumes“, an dem die Musik entsteht, einfangen. Seine Werke klingen laut eigener Aussage „immer sehr nach dem Ort, an dem sie entstanden sind“. Für ein Album. das in einer Salzlagerhalle aufgenommen wurde, sei einmal sogar das Knirschen des Salzes als Percussion verwendet worden. Die ständige Nähe zur Natur spiegelt sich für ihn auch in der färöischen Sprache wider, in der die zahlreichen Zischlaute das Rauschen des Meeres anklingen ließen (1).
Die Einsamkeit des Meeres und die rauen Wintertage sind wohl auch mit für den meditativ-reflexiven Charakter und die melancholische Grundierung verantwortlich, die viele färöische Songs aufweisen. So sieht etwa Theodor Kapnas die Songs seiner Metal-Band Hamferd von den teils sehr heftigen Winterstürmen beeinflusst, die für nicht wenige Fischer Tod und Verderben gebracht hätten. Diese Erfahrungen trügen die Menschen auch im Sommer mit sich herum. Die Winterstürme hätten sich „in das Land und die Leute eingeschrieben“ (2).
Dies merkt man auch dem Lied Aldan reyð („Die rote Welle“) von Jens Thomsen und seiner Band Orka an, in dem das ewige Geben und Nehmen des Meeres beschworen wird. Der dazugehörige Videoclip illustriert zum einen in düsteren Bildern die Verlusterfahrungen von Menschen, die an und mit dem Meer leben müssen. Im Bild einer Welle aus lebendigen Körpern, die einen ertrunkenen Menschen in sich aufnehmen, deutet der Kurzfilm zum anderen jedoch auch eine Spur von Trost an: den Trost, dass das Meer am Ende alle und alles wieder in sich aufnimmt, also nichts endgültig verloren ist.
Auch in dem Lied Nærvera („Gegenwart“), das Marius Ziska zusammen mit Hans Jacob Kollslíð verfasst hat, ist der Rhythmus des Meeres zu spüren. Der Song handelt vom ständigen Entgleiten der Gegenwart, nimmt also gewissermaßen die Erfahrung des alles verwehenden Windes und des anbrandend sich entziehenden Meeres in sich auf.
„Zu Hause. Unterwegs. Jedes Mal verlieren wir uns.“ Die Anfangsworte von Høgni Reistrups Album Áðrenn vit hvørva („Bevor wir verschwinden“; 2014) könnten auch in Ziskas Song vorkommen. Bei Reistrup stehen sie für die Angst vor dem Verschwinden seines Volkes, das er auch in einer Buchpublikation mit Heri á Rógvi (Exit Føroyar, engl. Exit Faroe Islands) thematisiert hat. Er verarbeitet dabei auch seinen eigenen Lebensweg, der ihn als 18-Jähriger ins Ausland geführt hat, wo er in Dänemark und Irland Medienwissenschaften studiert hat, ehe er mit 30 Jahren in seine Heimat zurückgekehrt ist (3).
Reistrups sieben Jahre zuvor veröffentlichter Song Vit vita at so er („So ist das Leben“) scheint zwar auf den ersten Blick nur das ganz gewöhnliche Ende einer Liebesgeschichte zu besingen. Vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zu sich selbst und seinen Landsleuten, die sich als Emigranten selbst zu verlieren drohen, steckt in der lakonischen Klage über den ewigen Drang, weiterzuziehen, vielleicht aber doch mehr als nur das Bedauern über die wechselhaften Launen der Liebesgöttin. Vielmehr deuten sich darin womöglich auch bereits die Entwurzelungsängste an, die Reistrup später explizit zum Ausdruck gebracht hat.
Mit den Vögeln singen
Der enge Bezug der färöischen Musik zur Natur drückt sich auch darin aus, dass vielfach draußen, im Freien, musiziert wird. Dabei ist nicht nur an die auch andernorts üblichen Open-Air-Festivals zu denken. Vielmehr gibt es auf den Färöern einige sehr spezielle Formen des „Outdoor-Musizierens“ – wie etwa die Höhlenkonzerte, die Kristian Blak regelmäßig veranstaltet. Die in der Nähe der Konzertgrotte nistenden Vögel haben ihn zudem auf die Idee gebracht, eine spezielle „Avifonie“ zu komponieren, in der er den Vogelgesang zu einem eigenen musikalischen Werk verarbeitet hat.
Die Vögel spielen auf den Färöern auch deshalb eine so große Rolle, weil die Inselgruppe im Sommer zur vorübergehenden Heimat zahlreicher Brutvögel wird. Internationale Berühmtheit hat der bei Vestmanna auf der Hauptinsel Streymoy gelegene Vogelfelsen erlangt, der sich bei den nistenden Vögeln (und damit auch bei den Touristen) besonderer Beliebtheit erfreut.
Dánjal á Neystabø, der mit seiner Band Dánjal Elemente verschiedener Folk-Richtungen mit Jazz-Anklängen verknüpft (4), äußert sogar die Ansicht, die Musik der Färöer sei von den speziellen Lauten beeinflusst, die die Vögel auf den Inseln von sich gäben. So habe der Ruf von in den Bergen lebenden Vögeln aufgrund der größeren Entfernung, die sie mit ihren Stimmen überbrücken müssten, einen tieferen Klang. Enger zusammenlebende Vögel – wie die Vögel in den Brutkolonien auf den Färöern – würden dagegen schneller aufeinander folgende und zudem höhere Töne von sich geben. Dies spiegle sich auch in der „kraftvolle[n], dynamische[n]“ färöischen Musik wider, die „die Wellen und den Wind“ in sich aufnehme oder „die Sonne, die durch die Wolken durchbricht“ (1).
Laut der Sopranistin Eivør Pálsdóttir, die für ihre Lieder traditionelle färöische Gesangsweisen mit Elektropop, aber auch mit Folk-Elementen aus anderen Kulturen verbindet (5), führt ein solches „Lauschen“ auf die Natur zu einer besonderen Ehrfurcht vor dieser – was auch nicht ohne Einfluss auf die Musik bleibe (1). Diese Empfindung scheinen allerdings keineswegs alle Färinger zu teilen. So gibt es auf den Färöern auch äußerst brutale Formen der Wal- und Vogeljagd, die kaum mit einer besonderen Ehrfurcht vor der Natur vereinbar sind (6).
Links und Nachweise
(1) Rebmann, Christiane: Färöer: Inseln der Musikseligen; Deutschlandfunk, 14. Februar 2016.
(2) Schneider, Dirk: Färöische Popmusik: Wo die Winterstürme komponieren; taz, 5. August 2014.
(3) Schneider, Dirk: Musiker Högni Reistrup: Die Anziehungskraft der Heimat; Deutschlandfunk, 15. November 2014.
(4) Dánjals 2014 erschienenes Album Once … ist vollständig auf Bandcamp zu hören. Zu der Single-Auskopplung Raindrops finden sich dort auch die Lyrics. Der Song ist im Netz sowohl in einer Live-Fassung als auch als Videoclip zu begutachten.
(5) In Í Tokuni (Videoclip mit Liedtext und englischer Übersetzung) greift Eivør Pálsdóttir etwa Elemente des Balkan-Folks auf.
(6) Coker, Elise: Die Färöer essen dicke Babyvögel. Vice, 19. November 2014; Schwarzer, Matthias: Blutige Jagd: Bewohner der Färöer-Inseln töten hunderte Wale; Neue Westfälische, 20. August 2018.
NDR-Filmreportage über die Färöer vom 26. Dezember 2018 (Autor: Joachim Reinshagen; Leitung der Sendung: Andrea Lütke; Redaktionsleitung: Susanne Wachhaus; Produktionsleitung: Thomas Schmidt)
Songs mit Übersetzungen
Orka: Aldan reyð
aus: Óró (2011)
Liedtext mit englischer Übersetzung
Freie Übertragung:
Die rote Welle
Das Brausen der nackten Einöde
ergießt sich über die Stille,
die Sonnenstrahlen brennen Tränen
in die Haut der Schafe.
Die Himmelswunden,
zerrissene Lippen,
brechen auf,
und aus der Dunkelheit
erhebt sich eine rote Welle.
In der nachtschwarzen Tiefe
öffnen sich alle Brunnen,
und die Wellenbrecher
brechen entzwei.
Verloren in gemurmelten Gebeten,
trauern die Überlebenden
in einer kargen Beerdigungszeremonie
um die Götter.
Das Opferblut strömt
über die nackte Erde,
die verwundeten Berge
sind zu Ruinen zerrissen.
Den Mann, der ganz allein im Wasser stand,
aufgetaucht aus feuchtem Felsgestein,
hat ein Meer aus Wellenmuskeln
mit sich fortgerissen.
Marius Ziska: Nærvera
aus: Home/Heim (2015)
Outdoor Session („Compass and Square Sessions“)
Live-Aufnahme mit Liedtext (von Hans Jacob Kollslíð) und englischer Übersetzung (in den Kommentaren)
Ganzes Album auf Bandcamp
Freie Übertragung:
Gegenwart
Ein plötzliches Gefühl von Gegenwart,
das meine Adern flutet,
ohne dass ich besonders darauf achte,
einfach so
streift es mich noch einmal,
berührt mein Herz,
weise und gütig.
Es scheint ganz mir zu gehören,
aber ich weiß, dass es in dir lebt.
Es ist noch hier, wenn es mich verlässt,
aber ich kann nicht in diesem Augenblick verweilen,
und nur dann könnte ich mir dieses Gefühl erhalten.
Und dann ein geflüsterter Gedanke:
Nichts existiert außerhalb von Zeit und Raum …
Schlaf jetzt nicht ein,
spüre den kraftvollen Gefühlen nach,
dem Denken deiner Haut und deines Blutes …
Und der Wille erwacht in mir,
an dieser Existenz festzuhalten
in dieser Welt,
auch wenn das Gefühl [von Gegenwart/Lebendigkeit; s.o.] mich verlässt.
Høgni Reistrup: Vit vita at so er
aus: Hugafar á ferð (2007)
Song mit Liedtext und englischer Übersetzung
Freie Übertragung:
So ist das Leben
Während wir warten,
flieht und verlässt uns die Zeit.
Deine Reise hat begonnen,
und ich werde hier bleiben.
Meine Sehnsucht schwebt in der Luft,
schwebt in der Luft,
während du dich auf den Weg machst
und mich hier zurücklässt.
Du weißt, dass ich weiß,
dass du weißt, dass du mich liebst.
Und ich weiß, dass du weißt,
dass ich weiß, dass ich dich liebe.
Alles läuft so, wie es laufen soll,
und du und ich, wir wissen,
dass es so ist,
wie es ist.
Dich hat das Reisefieber gepackt,
denk an mich, wenn du gehst.
In meinen Gedanken bleibst du immer bei mir,
genau wie jetzt, in dieser letzten Umarmung.
Vielen Dank für diesen interessanten und informativen Beitrag. Fremdartige Musik, fremdartiges Land. Das Video von Orka hat mich sehr beeindruckt. Allerdings hoffe ich, dass ich keine Alpträume davon bekomme …;-)
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