Der Flüchtling als Feind
Mit dem quasi-militärischen Vorgehen gegen Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze hat die EU mal wieder eine moralische Bankrotterklärung abgegeben. Dies zeigt: Wir brauchen dringend ein Asylrecht, das diesen Namen verdient.
Grenzsicherung statt Flüchtlingshilfe
Widersinniges Dublin-Abkommen
Asylrecht als Survival of the fittest
Differenzierung bei der Aufnahme von Flüchtlingen
Vorbereitung der Flüchtlinge auf das neue Leben
Janusgesichtige „Humanität“
Grenzsicherung statt Flüchtlingshilfe
Seit Tagen erreichen uns verstörende Bilder und Nachrichten von der griechisch-türkischen Grenze. Sultan Erdoğan, beleidigt über die fehlende Unterstützung der europäischen „Partner“ für sein Kriegsabenteuer in Syrien, lässt Flüchtlinge an die Grenze bringen. Den Hilfesuchenden werden sogar Busse und Schiffe zur Verfügung gestellt, damit sie nach Griechenland, also in die EU, gelangen können.
Die Folge: Griechische Grenzschützer behandeln die Flüchtlinge wie feindliche Invasoren. Die EU-Länder versichern Griechenland ihrer Solidarität und versprechen eine Verstärkung der Frontex-Grenztruppen. Selbst die vorübergehende Aussetzung des Asylrechts durch die griechische Regierung erscheint auf einmal als lässliche Sünde.
Widersinniges Dublin-Abkommen
Das Geschehen lässt sich aus einer Kurzzeit- und einer Langzeitperspektive betrachten. Aus der Kurzzeitperspektive manifestiert sich in ihm das Scheitern des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei. Genauer gesagt: Der Zynismus, der diesem Abkommen von Anfang an innegewohnt hat, ist nun offen zutage getreten. Schutzsuchende den Händen eines despotischen Regimes zu überantworten, das diese als Erpressungsmasse gegen den Verhandlungspartner benutzen kann, war noch nie eine gute Idee gewesen.
In der Langzeitperspektive offenbart der „war on refugees“ die widersinnige Konstruktion des Dublin-Abkommens. Die Probleme an den EU-Außengrenzen sind ein genaues Spiegelbild dieses Vertragswerks. Wenn Flüchtlinge in der Regel in dem Land Asyl beantragen müssen, wo sie das erste Mal den Boden der EU betreten, ist klar, dass die betreffenden Länder alles tun werden, um die Flüchtlinge von ihren Grenzen fernzuhalten. Genau diese Tendenz wird durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex unterstützt.
Das Dublin-Abkommen war seinerseits allerdings schon der vorläufige Höhepunkt diverser Versuche, das Asylrecht auszuhöhlen. Es gehört zu einem ganzen Paket abschreckender Maßnahmen, die seit den 1990er Jahren vermehrt eingeführt worden sind, um Menschen von einer Flucht in die EU abzuhalten. Dazu zählen etwa schlechtere Sozialleistungen, lagerähnliche Unterbringung, erschwerte Familienzusammenführung oder Reisebeschränkungen.
Die Handlungsmaxime ist schon seit Langem: Wir erkennen das Asylrecht zwar an, tun jedoch alles, um Menschen daran zu hindern, es in Anspruch zu nehmen.
Asylrecht als Survival of the fittest
Die schwerwiegendsten Folgen ergeben sich aus dem Grundsatz, dass sich nur diejenigen auf das Asylrecht berufen dürfen, die den Boden der EU erreicht haben. In Verbindung mit einem kriegerischen Grenzregime führt das zu einem auf die Spitze getriebenen, perversen Survival of the fittest: Nur wer die Grenzschutzanlagen und -patrouillen unter Einsatz seines Lebens zu überwinden vermag, darf Asyl beantragen. Alle anderen sind dem Untergang geweiht.
Dies – und nicht die vorübergehende Aussetzung des Asylrechts durch die griechische Regierung – ist der eigentliche Skandal. Was wir stattdessen bräuchten, wären Verfahren zur Beantragung von Asyl an EU-Vertretungen außerhalb der EU-Grenzen. Dies würde das Asylrecht wieder zu einem echten Schutzrecht machen, statt es zu einem Recht des Stärkeren zu pervertieren.
Natürlich müsste eine solche Verlagerung des Anerkennungsverfahrens mit einer sicheren, menschenwürdigen Unterbringung der Schutzsuchenden an den Beantragungsorten und mit einer erheblichen Aufstockung des Botschaftspersonals verbunden sein. Monate- oder gar jahrelange Wartezeiten auf den Bescheid würden das Asylrecht auch hier wieder in ein Asylverhinderungsrecht verwandeln.
Differenzierung bei der Aufnahme von Flüchtlingen
Das Hauptargument gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU ist die angeblich fehlende Akzeptanz einer solchen Politik bei der Bevölkerung. Der Zulauf für rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien zeige, dass die Öffnung der Grenzen im Jahr 2015 einer zunehmenden Fremdenfeindlichkeit Vorschub geleistet habe.
Man sollte sich allerdings genau vor Augen halten, was man hier sagt: Aus Furcht vor den Rechtsextremen ist man bereit, Humanität und Solidarität einzuschränken. De facto lässt man sich hier also vom rechten Rand der Gesellschaft die Politik vorschreiben.
Richtig ist: Wir tun den Flüchtlingen keinen Gefallen, wenn wir sie in Regionen bringen, wo ihnen mit offener Ablehnung oder gar Feindseligkeit begegnet wird. Um dem vorzubeugen, bräuchten wir jedoch lediglich von den abstrakten Verteilungsschlüsseln abzurücken. Stattdessen könnten die Schutzsuchenden gezielt dorthin gebracht werden, wo es eine hohe Aufnahmebereitschaft gibt.
Dies ist in der EU sowohl von Land zu Land als auch innerhalb der Länder von Region zu Region und von Stadt zu Stadt verschieden. In Deutschland haben sich etwa eine Reihe von Kommunen in dem von der Stadt Potsdam koordinierten Bündnis „Städte Sichere Häfen“ zusammengeschlossen. Sie alle haben sich bereit erklärt, auch außerplanmäßig besonders schutzbedürftige Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Kommunen sollten deshalb die bevorzugten Ansprechpartner bei der Suche nach geeigneten Aufenthaltsorten für die Flüchtlinge sein. Ihnen muss dann allerdings auch die entsprechende materielle und personelle Unterstützung durch Bund und Länder zuteil werden.
Vorbereitung der Flüchtlinge auf das neue Leben
Auf der anderen Seite sollten aber durchaus auch die Flüchtlinge selbst von Anfang an in die Pflicht genommen werden. Auch dies kann späterer Fremdenfeindlichkeit vorbeugen.
Wenn nicht mehr Durchsetzungsstärke und glückliche Zufälle die Voraussetzung für ein vorübergehendes Bleiberecht in der EU sind, sondern dieses jenseits der EU-Außengrenzen beantragt werden muss, können auch vor der Ankunft der Hilfesuchenden in der EU die Bedingungen ihres Aufenthalts dort abgeklärt werden. Hierzu würden etwa die verpflichtende Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen zählen (die dann freilich auch flächendeckend angeboten werden müssten), die vorübergehende Bindung an die Aufnahmeregion, die die Integrationsmaßnahmen organisiert, und die Vermittlung der beruflichen Kompetenzen und Ausbildungsinteressen mit dem Arbeitskräftebedarf im Zielland.
Idealerweise sollten natürlich bereits im EU-Ausland Vorbereitungskurse angeboten werden. Und statt die Schutzsuchenden auf Flüchtlingstrecks weiteren traumatisierenden Erfahrungen auszusetzen, könnten in diesem Rahmen auch bereits erste Traumatherapien angeboten werden.
Natürlich nützt die beste Vorbereitung und Integrationsbereitschaft auf Seiten der Flüchtlinge nichts, wenn dies am Zielort der Reise nicht von einem entsprechenden Zugehen auf die Hilfesuchenden begleitet ist. Wo MigrantInnen dauerhaft mit ihrer Fremdheit identifiziert werden, muss sich auch niemand wundern, wenn diese sich selbst in ihrer Fremdheit einigeln und sich in Parallelgesellschaften zurückziehen.
Janusgesichtige „Humanität“
Das Grundproblem bei der Forderung nach einem solidarischeren Umgang mit Flüchtlingen ist, dass dabei das vorausgesetzt wird, was als Resultat herauskommen soll: Humanität.
Wenn Humanität die oberste Handlungsmaxime bei zwischenmenschlichen wie zwischenstaatlichen Beziehungen wäre, gäbe es gar keine Flüchtlinge. Dann würden überall auf der Welt sogleich umfassende Hilfsprogramme anlaufen, sobald irgendetwas im Argen läge. Dann gäbe es gar keine Zeltstädte, wo Menschen unter unwürdigen Bedingungen eher dahinvegetieren als leben. Und es gäbe auch keine Diktatoren, die aus wirtschaftlichen oder geostrategischen Erwägungen von den so genannten „zivilisierten“ Ländern gestützt werden, obwohl sie ihr Volk in die Flucht treiben.
Humanität im Umgang mit Flüchtlingen einzufordern, ist damit letztlich ein Appell, das zentrale Projekt der Menschheitsgeschichte voranzutreiben: die Annäherung an die Utopie, die das Wort „Humanität“ selbst in sich trägt. Denn als Beschreibung des Ist-Zustands ist „Menschlichkeit“ ein Schreckenswort. Nur wenn wir es als Utopie eines friedlich-solidarischen Umgangs miteinander begreifen, erhält es den Sinn, den wir für gewöhnlich mit dem Wort assoziieren.
Der Weg zur Verwirklichung dieser Utopie ist lang. Wir sollten aber nie den Mut aufgeben, ihn zu beschreiten. Denn nur das Gehen auf diesem Weg wird jene Veränderung in uns bewirken, die uns davon abhält, Schutzsuchende als Feinde zu betrachten.
Bild: Dimitris Vitsikas: Skulptur „Flüchtlinge“ in einer Kirche auf Zypern (Pixabay)
Mehr zum Thema: Freiheitsboten in Flüchtlingsbooten
Das Thema Humanität lässt sich nicht auf das Thema Asyl verkürzen. Kriegsflüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge usw. haben keinen rechtlichen Anspruch auf Asyl. Aber auch mit ihnen wäre ein menschlicher Umgang notwendig. Der Text sagt nicht, wie er aussehen könnte und welche Forderungen man an das Chamäleon namens Politik stellen müsste. Die CDU vertritt heute die Positionen, die die AfD 2015 vertreten hat (Stichwort: Schießbefehl), und die Grünen vertreten heute die Position, die 2015 die CSU vertreten hat (Stichwort: Obergrenze=Kontingente). Von ihrer Humanität sind sie alle überzeugt.
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