Plädoyer für die Abschaffung der 5%-Hürde
Mit 4,96 % der abgegebenen Stimmen ist die FDP bei der Hamburger Bürgerschaftswahl an der 5%-Hürde gescheitert. Manch einer mag darüber nach dem demokratischen Desaster bei der Wahl zum thüringischen Ministerpräsidenten Häme empfinden. Dabei ist das Hamburger Ergebnis ein ebensolches demokratisches Desaster – bedeutet es doch, dass 201.162 Stimmen einfach unter den Tisch gefallen sind. Zusammen mit den 246.801 Stimmen für die anderen Parteien, die an der Sperrklausel gescheitert sind, sind damit fast eine halbe Million Menschen ihrer Stimme beraubt worden. Demokratie geht anders.
Die Sperrklausel: ein Schutzwall gegen autoritäre Machtansprüche?
Einschränkung von Mitbestimmungsmöglichkeiten durch die Sperrklausel
Vorschläge für eine Reform der 5%-Hürde
Die Sperrklausel: ein Schutzwall gegen autoritäre Machtansprüche?
Die Sperrklausel soll dazu dienen, eine zu starke Zersplitterung des Parlaments zu verhindern, indem der Einzug von Parteien in die Volksvertretung an die Erreichung einer Mindestanzahl von Stimmen der Wahlberechtigten geknüpft wird.
In Deutschland wird die Sperrklausel – die als 5%-Hürde relativ hoch angesetzt ist – mit den instabilen Mehrheitsverhältnissen in der Weimarer Republik begründet, die als einer der Gründe für den Siegeszug des Faschismus gelten. Sie soll hier also der Idee nach die Funktionsfähigkeit demokratischer Entscheidungsprozesse sicherstellen und so die Attraktivität autoritärer Optionen verringern.
Allerdings müssen Sperrklauseln nicht notwendigerweise der Demokratie dienen. Dies zeigt der Fall der Türkei, wo nach dem Militärputsch von 1980 von den neuen Machthabern gleich eine 10%-Hürde eingeführt worden ist. Diese trägt heute mit dazu bei, die Herrschaft des autoritären Erdoğan-Regimes abzusichern.
Auch andere Formen der künstlichen Herstellung klarer Machtverhältnisse im Parlament zeugen nicht unbedingt von einem demokratischen Geist. Dies gilt beispielsweise für die Praxis, der Partei mit der relativen Stimmenmehrheit einen Bonus an zusätzlichen Abgeordneten zu gewähren. Eine derartige Regelung existiert etwa in Griechenland. Auch in Italien wurde in der Vergangenheit ein solches Bonussystem praktiziert. Hier hat Silvio Berlusconi Ende 2005 ein entsprechendes Wahlrecht verabschieden lassen, das allerdings 2013 für verfassungswidrig erklärt wurde.
Bei der Entscheidung der italienischen Verfassungsrichter mag auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass Berlusconis Gesetz nahtlos an die antiparlamentarische Haltung Mussolinis anknüpfte. Denn auch Mussolini, der das Parlament als „Spielzeug“ des Volkes verhöhnte und im Oktober 1922 vor Anhängern spottete, alle könnten „wählen, bis zur (…) Verblödung“, hatte mit seiner Bewegung Ende 1923 ein Wahlgesetz durchs Parlament gebracht, das der Partei mit der relativen Stimmenmehrheit die Morgengabe zusätzlicher Abgeordneter versprach.
So erweist sich das Abzielen auf klare Mehrheitsverhältnisse im Parlament unter Missachtung des Wählerwillens in diesem Fall als Konstante, die faschistische Scheindemokratie und postfaschistischen Parlamentarismus miteinander verbindet. Sie erscheint als Symptom für die Abgehobenheit der politischen Klasse, die ihren Geschäften möglichst ungestört vom Volk nachgehen möchte.
Auch mit der Sperrklausel bewegt man sich damit demokratietheoretisch auf dünnem Eis. Die Grenzen zwischen der behaupteten Schutzwirkung für den Parlamentarismus und dem Anspruch einer autoritären Führungskraft, ohne lästige Debatten „durchregieren“ zu können, sind fließend.
Einschränkung von Mitbestimmungsmöglichkeiten durch die Sperrklausel
Problematisch ist die Sperrklausel darüber hinaus noch aus anderen Gründen. Zu nennen sind hier insbesondere
- die mangelnde Achtung vor dem Wählerwillen. Bei einer Sperrklausel darf der Wähler seinen Willen zwar äußern. Ob dieser für die Zusammensetzung des Parlaments eine Rolle spielt, hängt jedoch davon ab, ob eine ausreichende Anzahl anderer Wahlberechtigter – bei Bundestagswahlen über 3 Millionen Personen – denselben Willen äußert.
- die Benachteiligung kleinerer Parteien. Wer Angst davor haben muss, seine Stimme durch ein Kreuzchen bei einer kleinen Partei zu verlieren, wird sich zweimal überlegen, ob er seiner politischen Überzeugung an der Wahlurne Ausdruck verleiht. Bei einer Partei, die keine Aussicht auf den Einzug ins Parlament hat, mutet man den Wahlberechtigten de facto zu, entweder entsprechend ihrer tatsächlichen Präferenz abzustimmen und dadurch ihre Stimme zu verlieren oder mit ihrer Stimme den realpolitischen Prozess zu beeinflussen.
- die Verfälschung des Wählerwillens. Diese Gefahr ist insbesondere dann gegeben, wenn ein Parteienblock weniger in sich zersplittert ist als ein anderer – wenn also zum Beispiel eine bürgerliche Partei stabil bei 30 % liegt, während das linke Lager zwar insgesamt auf einen ähnlichen Anteil bei den Wählerstimmen kommt, diese sich aber auch auf eine oder mehrere kleine, teilweise unter der 5%-Hürde bleibende Parteien verteilen.
- die Erschwerung einer Erneuerung des Parteienspektrums. Die 5%-Hürde erschwert es neuen Parteien, sich zu etablieren. Da sie meist gar nicht erst ins Parlament hineinkommen, können sie die Wählenden auch nicht davon überzeugen, dass sie in der Lage sind, sinnvolle politische Arbeit zu leisten. Außerdem sind sie dadurch weniger in den Medien präsent und haben natürlich auch weniger Geld für ihre Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die Etablierung einer neuen Partei nicht nur die Schaffung eines neuen Machtzentrums bedeutet. Vielmehr gehen damit immer auch neue politische Umgangsformen sowie neue Ideen und Sichtweisen auf das soziale Miteinander einher. Dadurch, dass die 5%-Hürde den Wandel der Parteienlandschaft behindert, erleichtert sie es den großen Parteien, ihre auf Vetternwirtschaft und einer engen Verflechtung mit den Lobbygruppen der großen Konzerne beruhende Herrschaft abzusichern.
Vorschläge für eine Reform der 5%-Hürde
Angesichts der Unterminierung demokratischer Mitbestimmungsprozesse durch die 5%-Hürde sollte man die Sperrklausel wohl am besten abschaffen. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament hat ihre Abwesenheit in der Vergangenheit ja auch nicht zu einer permanenten Selbstblockade der Volksvertretung geführt. Das, was in anderen Ländern vor den Wahlen passieren muss – der Zusammenschluss zu größeren Parteienfamilien –, geschieht dort eben nach dem Urnengang und verhindert in derselben Weise die Entscheidungsunfähigkeit des Parlaments.
Auch das Argument, die 5%-Hürde schütze die deutsche Demokratie, ist nach dem Siegeszug der AfD nicht mehr stichhaltig. Denn die Erfolge der AfD zeigen ja gerade, dass sich populistische Parteien, die keine Skrupel haben, Unzufriedenheit und diffuse Ängste der Bevölkerung in ihren Parolen widerzuspiegeln, auch unter den Bedingungen der Sperrklausel ihren Weg ins Parlament bahnen können. Parteien, die auf differenziertere Argumente und Programme setzen, haben es dagegen schwer, den Sprung über die 5%-Hürde zu schaffen.
Da so einschneidende Veränderungen wie die Abschaffung der Sperrklausel im erstarrten deutschen Staatswesen allerdings nur schwer vorstellbar sind, sollte wenigstens über Modifikationen nachgedacht werden. Möglich wären hier etwa:
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- eine Absenkung der Sperrklausel. Sperrklauseln gibt es auch in anderen Ländern. Die Höhe der Hürde für den Einzug ins Parlament hängt dabei letztlich davon ab, wie hoch das Vertrauen in den demokratischen Diskurs und in die Kompromissfähigkeit der beteiligten Akteure ist. Der Mut zu einer Absenkung der Sperrklausel würde der deutschen Demokratie also gewissermaßen eine Art Reifezeugnis ausstellen.
- die Einführung der Möglichkeit, bei der Wahl alternative Präferenzen anzugeben. Wer eine kleinere Partei wählt, müsste dann nicht mehr um den Verlust seiner Stimme fürchten, sollte die Partei die 5%-Hürde nicht überspringen. In diesem Fall wäre dann die auf dem Wahlzettel angegebene zweite oder dritte Präferenz für die Stimmenauszählung maßgeblich.
- die Einführung von Stichwahlen. Dies erscheint in Deutschland vor allem bei den Erststimmen überfällig. Denn dadurch, dass das deutsche Wahlrecht – anders als etwa das französische – keinen zweiten Wahlgang unter den beiden erstplatzierten Kandidaten kennt, kommt es immer wieder zu Konstellationen, bei denen die Kandidaten von SPD und Linken zusammen die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten, der CDU-Kandidat aber mit der relativen Stimmenmehrheit ins Parlament einzieht. Die Einführung einer Stichwahl wäre aber auch bei den Zweitstimmen denkbar. Sie bezöge sich dann auf all jene Parteien, die unter die 5%-Hürde gefallen sind, und würde dazu dienen, die restliche Anzahl von Parlamentssitzen unter den verbliebenen kleineren Parteien zu verteilen. Diese könnten dabei unter Umständen auch die Möglichkeit erhalten, Wahlbündnisse einzugehen, um die angesetzte Hürde an Wählerstimmen leichter überspringen zu können.
Mussolini-Zitat entnommen aus: Reichardt, Sven: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, S. 150. Köln und Weimar 2009: Böhlau.
Zahlen zur Hamburger Bürgerschaftswahl 2020 entnommen aus: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig Holstein
Bild: TPHeinz: Mundtot (Pixabay)
Ich verstehe nicht, warum die Sperrklausel nicht längst schon weggeklagt wurde.
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