Das Glück der Herde

Zum ethischen Paradigmenwechsel in der deutschen Corona-Politik

photomontage-556811_1920 (2) Gerd Altmann
Herde oder Individuen?

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INHALT:
Darf man Verkehrsflugzeuge abschießen, wenn sie für einen Terroranschlag benutzt werden sollen?
Die utilitaristische Antwort
Die deontologische Antwort
Die konkurrierenden Ethik-Modelle und die Corona-Pandemie
Grundsätzliche Probleme der utilitaristischen Ethik
Utilitaristische Corona-Ethik?
Riskante Schulöffnungen
Lehrkräfte als Sündenböcke
Anschwellendes Waffenarsenal gegen Covid-19
Verspielt die Politik die Forschungserfolge?
Nachweise und Links

Darf man Verkehrsflugzeuge abschießen, wenn sie für einen Terroranschlag benutzt werden sollen?

Bei den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden bekanntlich Verkehrsflugzeuge als Waffe zweckentfremdet, um die Türme des World Trade Center zum Einsturz zu bringen. Als Reaktion darauf gab es in Deutschland Bestrebungen, der Luftwaffe in einem solchen Fall das vorsorgliche Abschießen von Flugzeugen zu ermöglichen. Dem schob das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil aus dem Jahr 2006 einen Riegel vor.
Die Diskussionen über das Problem rückten einen jahrhundertealten ethischen Grundkonflikt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit: die Frage, ob staatliches Handeln sich eher am allgemeinen Wohl der Gesellschaft orientieren solle oder am unbedingten Wert des einzelnen Lebens.

Die utilitaristische Antwort

Jeremy_Bentham_by_Henry_William_PickersgillDie erstgenannte Position entspricht der Argumentation der konsequentialistisch-utilitaristischen (auf die Folgen bzw. den Nutzen bezogenen) Ethik. Die prägnanteste Formulierung zu ihren Grundüberzeugungen stammt von dem englischen Philosophen Jeremy Bentham. Das „fundamental axiom“ der utilitaristischen Philosophie fasste er 1776 in die Worte: „It is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong“ (1).
Die Orientierung am „größten Glück der größten Zahl“ impliziert, dass der Wert einer Handlung sich stets aus ihren Konsequenzen ergibt. Auch eine an sich moralisch verwerfliche Handeln kann daher ethisch vertretbar oder sogar geboten sein, wenn ihre Folgen für das Wohlergehen der Mehrzahl der Menschen förderlich sind.
Bentham hätte also – hätte es zu seiner Zeit schon Flugzeuge gegeben – dem vorsorglichen Abschuss von Verkehrsflugzeugen zugestimmt, wenn dadurch mehr Menschen gerettet werden könnten, als durch die Bombardierung des Flugzeugs ums Leben kommen.

Die deontologische Antwort

In der deontologischen Ethik steht der Wert der Handlung an sich im Vordergrund, unabhängig davon, welche Konsequenzen sich aus ihr ergeben. Der Begriff „deontologisch“ ist abgeleitet von dem griechischen „deon“. Damit ist das „Gesollte“ gemeint, das, was jemand aufgrund religiöser Gebote oder gesellschaftlicher Normen zu tun hat. Deontologische Ethik-Modelle werden deshalb auch als „Pflichtethiken“ bezeichnet.
Dies klingt zunächst nach moralischem Rigorismus und mangelnder Reflektiertheit der Entscheidungen. In der Tat können deontologische Ethiken auch zu einer fehlenden Flexibilität im Denken und zu pharisäerhafter Selbstgerechtigkeit führen. Dies ist etwa der Fall, wenn selbst kleine, die Kränkung anderer verhindernde Notlügen mit dem Verweis auf den grundsätzlich verdammenswerten Charakter der Unaufrichtigkeit abgelehnt werden.
Auf der anderen Seite lässt sich aus deontologischen Ehtik-Modellen aber auch derKant_gemaelde_3 unbedingte Wert des einzelnen Lebens ableiten. Am deutlichsten formuliert hat dies wohl Immanuel Kant mit seinem „praktischen Imperativ“. Dieser beruht auf der Überzeugung, dass der Mensch, wie „überhaupt jedes vernünftige Wesen, (…) als Zweck an sich selbst“ existiert. Daraus wird die Forderung abgeleitet, dass der Mensch niemals „bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ benutzt werden dürfe. Stattdessen müsse er „in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ (2).
Mit anderen Worten: Kant hätte dem Abschuss eines Verkehrsflugzeugs zur Verhinderung der Tötung anderer Menschen auch dann nicht zugestimmt, wenn sich in dem von Terroristen gekaperten Flugzeug außer dem Piloten kein weiterer Unschuldiger befinden würde. Denn auch in diesem Fall würde ein einzelner Mensch nicht mehr als „Zweck an sich selbst“ betrachtet, sondern durch seinen erzwungenen Opfertod zum bloßen „Mittel“ eines außer ihm liegenden Zwecks degradiert werden.

Die konkurrierenden Ethik-Modelle und die Corona-Pandemie

Überträgt man die konkurrierenden Ethik-Modelle auf die Corona-Pandemie, so ergibt sich die folgende Konstellation: Die Mortalitätsrate bei an Covid-19 Erkrankten beträgt möglicherweise „nur“ zwischen einem und zwei Prozent (3). Die utilitaristische Bewertung dieser Zahlen sieht dann so aus: Nur eine Minderheit der Bevölkerung reagiert auf die Infektion mit schweren Krankheitsverläufen. Eine noch kleinere Anzahl von Menschen stirbt an der Pandemie. Gemäß dem Axiom des „größten Glücks der größten Zahl“ wäre es also nicht vertretbar, allen Menschen Beschränkungen aufzuerlegen, um einem kleinen Teil der Bevölkerung das Leben zu retten.
Nach den Maßstäben der deontologischen Ethik ergibt sich dagegen: Kein Leben darf zu Gunsten des Lebens anderer geopfert werden. Die Überlegung, den Tod einiger weniger Menschen in Kauf zu nehmen, um anderen ein besseres Leben zu ermöglichen, ist danach ethisch nicht vertretbar. Der Tod eines Menschen kann niemals als wünschenswertes oder akzeptables Mittel zum Zweck der Förderung eines anderen Lebens akzeptiert werden.

Grundsätzliche Probleme der utilitaristischen Ethik

Mit dem strengen Lockdown und den Ausgangsbeschränkungen sind die meisten europäischen Länder bislang dem deontologischen Ethik-Modell gefolgt. Dies gilt selbst für Großbritannien, wo das utilitaristische Denken stärker in der Gesellschaft verankert ist. Spätestens seit Premierminister Boris Johnson selbst an Covid-19 erkrankt war, ist das Land auf das am Schutz des einzelnen Lebens ausgerichtete Handlungsmodell umgeschwenkt.
Hierin offenbart sich eine Grundproblematik utilitaristischer Ethik-Ansätze: Sie erscheinen so lange logisch und zustimmungsfähig, wie man nicht selbst von ihren teils drastischen Konsequenzen betroffen ist. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Die meisten werden das Verkehrsflugzeug abschießen wollen, wenn sie vom Boden aus zusehen, wie es auf ein Hochhaus zurast. Aber niemand möchte gerne in dem Flugzeug sitzen. In diesem Fall würde jeder hoffen, die Terroristen doch noch im letzten Moment überwinden zu können. Und kann man denn vom Boden aus sehen, ob das nicht vielleicht tatsächlich gerade geschieht?
Noch schwerer wiegt allerdings, dass utilitaristische Ethik-Modelle bevorzugt Einzelfälle betrachten, von diesen aber allgemeine Handlungsmodelle ableiten. Eine typische Problemstellung von Anhängern einer konsequentialistischen Ethik wäre etwa: Wenn du einen Menschen, der an einem dir nicht bekannten, belebten Ort eine Zeitbombe versteckt hat, foltern musst, um ihn zum Reden zu bringen – würdest du es tun?
Auf eine aktuelle Diskussion bezogen, könnte die Konfliktformulierung lauten: Ein autonom fahrendes Auto steuert auf eine Kreuzung zu. Im selben Augenblick läuft ein Kind auf die Straße. Bremsen ist nicht mehr möglich. Wenn das Auto aber dem Kind ausweicht, überfährt es eine alte Dame, die auf der anderen Straßenseite die Kreuzung betritt.
Die suggerierten Antworten sind im einen Fall: Folter ist unter bestimmten Umständen erlaubt. Im anderen Fall wird erwartet, dass der Wert des Lebens eines Kindes höher gewichtet wird als der einer alten Dame, die ihr Leben zum größten Teil hinter sich hat. Daraus ergibt sich, dass autonom fahrende Autos mit einer Software zur Alterserkennung ausgestattet werden sollten, um automatisch das vermeintlich schützenswertere Leben zu verschonen.
Gerade durch eine solche Verabsolutierung einer Einzelfallentscheidung erhält jedoch die ethische Richtlinie – unabhängig davon, ob sie in der konkreten Situation vertretbar ist oder nicht – das Potenzial, zentrale Grundsätze der Ethik zu untergraben. Ein Staat, der Folter in Einzelfällen duldet, läuft Gefahr, bei der Inquisition oder in Guantanamo zu landen. Die Grenzen für die Gewaltanwendung des Staates gegenüber seinen Bürgern können dadurch auf die Dauer so aufgeweicht werden, dass am Ende ein Polizeistaat steht, in dem die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit Einzelner als legitimes Mittel erscheint, um staatliche Interessen durchzusetzen.
Im Falle der alten Dame, die ihr Leben für das eines Kindes opfern soll, sind die Folgen nicht weniger drastisch. Hier läuft die Generalisierung der Einzelfallentscheidung darauf hinaus, dass das Leben älterer oder gar pflegebedürftiger Menschen als zu kostenintensiv und damit als zu große Belastung für den Wohlstand der Bevölkerungsmehrheit erscheint.
Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Wiedergeburt des Unworts „lebensunwert“. Am Ende gelangt man dann zu ähnlichen Rechnungen, wie sie aus den Mathematik-Lehrbüchern der Nationalsozialisten bekannt sind: Ein Behinderter kostet den Staat pro Monat 3.000 Reichsmark. Eine neue Schaukel für einen Spielplatz kostet 100 Mark. Wie viele Schaukeln können wir kaufen, wenn wir die Kosten für den Behinderten einsparen?

Utilitaristische Corona-Ethik?

Utilitaristische Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Pandemie gab es anfangs nur sehr vereinzelt. Lediglich aus dem Umfeld von US-Präsident Donald Trump verlautete schon früh, die Alten sollten sich für die Jungen opfern und so einen wochenlangen Stillstand der Wirtschaft verhindern helfen (4).
Ansonsten ist man weltweit der Devise gefolgt, so viele Menschenleben wie möglich retten zu wollen. Dabei hat sich allerdings gezeigt, dass dies nicht notwendigerweise auf einer am Wert des Einzellebens ausgerichteten Ethik basieren muss. In Ländern mit einem größeren Anteil verarmter Bevölkerungsschichten war und ist der Anspruch, möglichst viele Menschenleben retten zu wollen, vielmehr oft eher mit einem utilitaristischen Ansatz verbunden. Denn damit nimmt man hier auch in Kauf, dass einige Menschen verhungern, weil sie nicht mehr auf die Straße gehen dürfen, um das für ihren Lebensunterhalt nötige Existenzminimum zu erwirtschaften. De facto wurde und wird also verlangt, dass ärmere Menschen sich aufopfern, um den Reicheren das Überleben zu ermöglichen.
Je länger der Lockdown andauerte, desto lauter wurden zudem auch in den reichen Industrieländern die Stimmen, die eine Abkehr von der bisherigen ethischen Linie forderten. Als eine Art Dammbruch fungierte dann ein Interview, das Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 26. April dem Berliner Tagesspiegel gegeben hat. Darin stellte er die bisherige Ausrichtung der Politik am Schutz des einzelnen Lebens explizit in Frage (5).
Dass ausgerechnet Schäuble sich in dieser Weise geäußert hat, ist dabei kein Zufall. Schon als Finanzminister profilierte er sich als Ritter der Schwarzen Null, die er wie den Heiligen Gral verteidigt hat.
homeless-813618_1920 (2)Magdolna Krasznai - KopieDie kompromisslose Verfolgung einer solchen Austeritätspolitik widerspricht ebenfalls dem kantischen Diktum, dass kein Mensch „bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ betrachtet werden dürfe (s.o.). Die von Schäuble maßgeblich mitbestimmte harte Linie in der griechischen Schuldenkrise, die den Menschen dort immer neue soziale Einschnitte abverlangte, beruht auf der Vorstellung, dass die heutige Generation mit ihren Verzichtleistungen den Wohlstand der künftigen Generationen ermöglichen solle. Menschen an oder bis unter die Grenze des Existenzminimums zu treiben, ist hier also ein Mittel zum Zweck der Sanierung des Staatshaushalts.
Streng genommen, ist eine solche Vorgehensweise noch nicht einmal mit der utilitaristischen Ethik im Sinne Benthams vereinbar. Denn deren Ideal des „größten Glücks der größten Zahl“ wird ja mit dem jahrelangen Kaputtsparen des Sozialstaats ebenfalls verfehlt. Die Sparpolitik beruht vielmehr lediglich auf dem vagen Versprechen einer „goldenen“ Zukunft – die paradoxerweise aus einer schwarzen Null besteht.
Im Anschluss an Schäuble haben auch weitere Politiker und Vertreter der Wirtschaft die strengen Corona-Schutzmaßnahmen hinterfragt. Das Ergebnis ist der bekannte faule Kompromiss: Schrittweise Abkehr vom Lockdown bei gleichzeitiger Einführung der Schutzmaskenpflicht. An die Stelle einer effektiven Bekämpfung der Pandemie tritt damit eine symbolische Maßnahme, deren Wirksamkeit selbst von anerkannten Experten bezweifelt wird (6). Dies verdeckt den faktischen Paradigmenwechsel, durch den nicht mehr der unbedingte Schutz des einzelnen Lebens, sondern das vermeintliche Wohl der Vielen im Vordergrund steht.

Riskante Schulöffnungen

Besonders deutlich wird die utilitaristische Wende in der deutschen Corona-Politik bei den Schulöffnungen. Einer aktuellen Studie zufolge hat nichts die Ausbreitung der Pandemie so wirkungsvoll eingedämmt wie die Schulschließungen (7). Dies bedeutet im Umkehrschluss: Nichts gefährdet die Erfolge im Kampf gegen Covid-19 so sehr wie vorzeitige Schulöffnungen.
Der Grund dafür ist zunächst, dass Kinder und Jugendliche in der Schule durchschnittlich mit mehr Menschen zusammenkommen als Erwachsene an ihren Arbeitsplätzen. Hinzu kommt, dass Heranwachsende dazu tendieren, ihre Kräfte zu erproben, ein stärker ausagierendes Verhalten zeigen und sich auch, vorsichtig ausgedrückt, vernehmlicher artikulieren. Dies alles führt zu mehr körperlicher Nähe, verbunden mit der erhöhten Gefahr einer Tröpfcheninfektion.
Für Kinder und Jugendliche selbst ist dies größtenteils unproblematisch, da die Infektion bei ihnen nur selten zu schweren Krankheitsverläufen führt. Würde man alle gesunden SchülerInnen in die Schulen sperren und sie sich gegenseitig unterrichten lassen, so wäre unter ihnen wohl bald die ersehnte Herdenimmunität erreicht, und das Virus könnte ihnen nichts mehr anhaben.
Sobald man die Kinder aber mit Erwachsenen zusammenbringt, entfaltet das Virus seine heimtückische Wirkung. Denn Kinder können die Infektion zwar selbst in aller Regel gut wegstecken. Das schließt aber nicht aus, dass sich das Virus durch sie auf andere übertragen kann.
Laut einer Untersuchung an Einwohnern des besonders von der Pandemie betroffenen Landkreises Heinsberg in Nordrhein-Westfalen ist das von Kindern ausgehende Ansteckungspotenzial sogar besonders hoch. Die Studie hat gezeigt: Bringen Eltern das Virus in eine Familie, so beträgt das Ansteckungsrisiko für die übrigen Familienmitglieder 35 Prozent. Wird das Virus dagegen von einem Kind in die Familie getragen, so erhöht sich das Ansteckungsrisiko für die anderen auf 70 Prozent (8).
Voreilige Schulöffnungen folgen damit einem klassisch-utilitaristischen Muster: Damitpeople-316506_1280 (2)PublicDomanPicture die Mehrheit wieder die Segnungen eines normalen Alltagslebens genießen kann, wird eine Minderheit von Kindern gezwungen, ihren Eltern den Tod nach Hause zu bringen.
Statistiken aus Großbritannien zeigen zudem, dass das utilitaristische Hinwirken auf die Herdenimmunität auch mit vermehrter sozialer Ungerechtigkeit einhergeht. Diejenigen, die den damit verbundenen Lockerungsmaßnahmen vorrangig zum Opfer fallen, entstammen überdurchschnittlich oft sozial benachteiligten Schichten, wo die beengten Wohnverhältnisse eine Ansteckung mit dem Virus begünstigen (9). Dies versieht auch das Argument, rasche Schulöffnungen seien im Interesse sozial benachteiligter Kinder, die zu Hause nicht über angemessene Lernmöglichkeiten verfügen, mit einem dicken Fragezeichen.
Die Schlussfolgerung hieraus kann nur lauten: Nichts überstürzen! Lieber noch ein wenig im Online-Lernmodus bleiben und allenfalls auf kurze Präsenzphasen in Kleingruppen setzen! Keinen Gedanken an Noten, Zeugnisse, Prüfungen und 45-Minuten-Takt verschwenden! Besser zuerst langsam die anderen gesellschaftlichen Bereiche wieder auf Normalmaß bringen und dafür Kompromisse bei berufstätigen Eltern eingehen: versetzte Arbeitszeiten, eine Kombination von Homeoffice und Präsenzphasen, Nachbarschaftshilfe bei der Kinderbetreuung.

Lehrkräfte als Sündenböcke

teacher-4784917_1920 (2)emmaws4sUnglücklicherweise wird nun jedoch gerade bei den Schulöffnungen aufs Tempo gedrückt. Mal mehr, mal weniger. Nehmen wir also an, mir würden jetzt gerade die Bildungsministerin aus Nordrhein-Westfalen oder ihr Kollege aus Sachsen gegenübersitzen, wo die Schulöffnungen mit besonderer Kompromisslosigkeit betrieben werden. Die beiden würden wahrscheinlich nur mit den Schultern zucken und fragen: Was willst du denn? Wir haben doch umfangreiche Hygienepläne erarbeiten lassen! Wenn die eingehalten werden, kann doch gar nichts passieren!
Genau das ist aber das Problem. Die beschlossenen Hygienepläne haben mit den real vorhandenen Möglichkeiten nicht das Geringste zu tun. Die räumlichen, personellen und sanitären Voraussetzungen, die dafür erforderlich sind, sind einfach nicht gegeben. Die Probleme lassen sich auch nicht von einem auf den anderen Tag beheben. Sie beruhen vielmehr auf jetzt offen zu Tage tretenden politischen Versäumnissen, die sich nur durch massive Investitionen in die personelle, bauliche und sanitäre Ausstattung der Schulen überwinden ließen.
Anstatt dies zuzugeben und Innovationspläne für die Zukunft vorzulegen, zeigen die Bildungsminister aber mit dem Finger auf die Lehrkräfte: Seht her: Die sind schuld, wenn die Bildung eurer Kinder den Bach runtergeht! Unsere Hygienepläne sind ganz wunderbar – nur die Lehrer sind unfähig und unwillig, sie umzusetzen!
Auf diese Weise sind Lehrerinnen und Lehrer faktisch zum Abschuss freigegeben worden. Jeder darf sie in den sozialen Medien nach Herzenslust beschimpfen. Und wenn das Erwartbare eintritt und die Infektionszahlen sich durch die Schulöffnungen wieder erhöhen, steht auch dafür schon der passende Sündenbock parat.
Nach dem Ende der Krise kann man sich dann allerdings die Werbung für den Lehrerberuf sparen. Denn einen Beruf, in dem man sich bei nächstbester Gelegenheit zum Punchingball für gestresste Eltern degradieren lassen muss, wird – allem Gejammer über den Lehrkräftemangel zum Trotz – kaum jemand ergreifen wollen.

Anschwellendes Waffenarsenal gegen Covid-19

Es gibt – um zum Schluss noch ein wenig versöhnlichere Töne anzuschlagen – einige sehr hoffnungsvolle Entwicklungen bei der Suche nach Wegen zur Bekämpfung der Pandemie. Optimistisch stimmen können etwa die folgenden Erkenntnisse:microbiologist-1332292_1920 (2)PhotoshopTofs

  • Eine frühere Infektion mit anderen Arten von Corona-Viren kann u.U. zur Folge haben, dass die gebildeten Antikörper auch zu einer Grundimmunität gegenüber dem neuartigen Corona-Virus führen (10). Dadurch könnte die allseits beschworene Herdenimmunität weit früher erreicht werden, als es derzeit der Fall zu sein scheint.
  • Analog hierzu könnten Medikamente, die gegen verwandte Viren (wie SARS und MERS) entwickelt worden sind, die Entwicklung von Präparaten gegen Covid-19 zumindest beschleunigen helfen (11).
  • Unter den Medikamenten, die ursprünglich gegen andere Krankheiten entwickelt und jetzt auch in ihrer Anwendbarkeit auf die neue Corona-Infektion überprüft worden sind, scheinen mir zwei Präparate besonders vielversprechend zu sein: Remdesivir und Tocilizumab. Das ursprünglich zur Bekämpfung von Ebola entwickelte Remdesivir greift die Viren direkt an. Eine internationale Studie hierzu hat positive Ergebnisse erbracht und soll demnächst veröffentlicht werden (12). Bei Tocilizumab handelt es sich um ein Rheumamittel. Es dämpft die Immunreaktion des Körpers und soll so das verhindern helfen, was insbesondere bei einem Befall der Lunge mit Corona-Viren zur tödlichen Gefahr für die Betroffenen werden kann: eine überschießende Abwehrreaktion des Immunsystems (13).
  • Bei der Passivimmunisierung werden Erkrankten Antikörper gespritzt, die aus dem Blutserum von Menschen gewonnen werden, welche eine Infektion mit den betreffenden Erregern erfolgreich überstanden haben. Diese Methode wird in verschiedener Form auch als Mittel zur Bekämpfung von Covid-19 erprobt (14).

Verspielt die Politik die Forschungserfolge?

Dies alles zeigt: Wir sind auf einem guten Weg. Die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das neuartige Coronavirus wird zwar voraussichtlich noch mehrere Monate dauern. Dennoch werden wir der gefürchteten „zweiten Welle“ der Pandemie nicht so hilflos gegenüberstehen wie dem ersten Überfall des Feindes. Vielmehr haben wir jetzt gleich mehrere Waffen in Aussicht, mit denen wir uns ihm entgegenstemmen können.
Nur: Noch sind die Waffen nicht fertig entwickelt. Noch ist fraglich, ob wir genügend Beatmungsgeräte für den nächsten Ausbruch zur Verfügung haben werden. Wäre es also nicht besser gewesen, noch für kurze Zeit die Füße stillzuhalten? Hätten wir nicht zumindest bei den Schulöffnungen etwas mehr Geduld an den Tag legen sollen? Die Kombination aus Lockerungs- und Kontrollmaßnahmen stärkt bei gleichzeitiger Schutzmasken-Maulkorbpflicht ja ohnehin nur einen: Big Brother!
Da die Fußball-Bundesliga ja nun am Wochenende ihren Betrieb wieder aufnehmen wird – zu Ehren des geisterhaften Feindes mit Geisterspielen –, ist es mir vielleicht erlaubt, meinen Eindruck von der Situation abschließend in einem Fußball-Bild zusammenzufassen: Getrieben von den allgemeinen Öffnungswünschen, verhält sich die Politik wie ein Stürmer, der zwei Meter vor dem Tor steht und den Ball nur noch ins Netz schieben muss. Da aber verlässt Kafka1906_croppedihn plötzlich der Mut, und er läuft zum Anstoßkreis zurück. Nun beginnt das Spiel wieder von vorn, und niemand weiß, ob das Team noch einmal eine solche Torchance bekommen wird.
Für die Feingeistigeren unter euch könnte ich hier auch Franz Kafka zitieren:

„Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück“ (15).

Nachweise und Links

(1) Bentham, Jeremy: A fragment on government (1776), Preface.
(2) Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In: Ders.: Werke in 12 Bänden (Theorie-Werkausgabe, 1956), herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 7, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, S. 7 – 02 (hier S. 59 – 61). Frankfurt/M. 1968: Suhrkamp.
(3) So kommt eine Studie der Universität Hongkong unter Einbeziehung der Dunkelziffer der Infizierten auf eine Sterblichkeitsrate von 1,4 Prozent (vgl. Bublak, Robert: Modellrechnung Corona-Pandemie: Mortalität bei COVID-19 niedriger als angenommen? Springermedizin.de, 23. März 2020).
(4) Explizit in dieser Weise geäußert hat sich der texanische Vize-Gouverneur Dan Patrick (vgl. Spiegel.de: Coronavirus: Texas Vizegouverneur: Großeltern sind bereit, für ihre Enkel zu sterben. 24. März 2020).
 (5) Birnbaum, Robert / Ismar, Georg: [Interview mit] Bundestagspräsident zur Corona-Krise: Schäuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen. In: Der Tagesspiegel, 26. April 2020.
(6) Vgl. Links unter RB-Post vom 12. Mai 2020: Verhüllt den Reichstag – nicht die Bürger!
(7) Hartl, Tobias / Weber, Enzo: Welche Maßnahmen brachten Corona unter Kontrolle? In: Ökonomenstimme, 12. Mai 2020.
(8)  Wildermuth, Volkarth: Übertragung von Covid-19: Welche Rolle spielen Schulen als Infektionsherde? Deutschlandfunk, Forschung aktuell, 6. Mai 2020; vollständige Heinsberg-Studie: Streeck, Hendrik / Hartmann, Gunter u.a.: Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event. Universität Bonn 2020.
(9)  Vgl. Meurer, Friedbert: Corona-Lockdown in Großbritannien. Wie die Katastrophe das Land verändert. Deutschlandfunk Kultur, Weltzeit, 12. Mai 2020.
(10)     Westerhaus, Christine: COVID-19 – Unklarheit bei Immunität nach Corona-Infektion. Deutschlandfunk, Forschung aktuell, 28. April 2020.
(11)     Einen guten Überblick über die aktuellen Forschungen zu Medikamenten gegen Covid-19 bietet die Website der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa.de): Therapeutische Medikamente gegen die Coronavirusinfektion Covid-19.
(12)     Vgl. ebd. (vfa.de); speziell zu Remdesivir: „Remdesivir wirkt“. Medikament gegen Covid-19 laut Kölner Mediziner [Gerd Fätkenheuer] bald verfügbar. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 10. Mai 2020.
(13)     Vgl. ebd.; speziell zu Tocilizumab: Antikörper als Medikament gegen Corona. LMU Klinikum behandelt Covid-Patienten mit Tocilizumab. In: Klinikmagazin (kma-online), 15. April 2020.
(14)     Vgl. ebd. (vfa.de).
(15)     Kafka, Franz: Aphorismen II, 4 (Nr. 3). In: Ders.: Unpublished Works 1916 – 1918; hier zit. nach Nervi, Mauro: The Kafka Project (kafka.org).

 

Bildnachweise: Titelbild: Gerd Altmann: Photomontage (Pixabay)
  • Henry William Pickersgill: Jeremy Bentham (1829); National Portrait Gallery (Wikimedia)
  • Johann Gottlieb Becher: Immanuel Kant (1768); Schiller-Nationalmuseum Marbach (Wikimedia)
  • Magdolna Krazsnai: Obdachloser (Pixabay)
  • Public Domain Pictures: People [Schüler]; Pixabay
  • EmmaWs4s: Lehrerin (Pixabay)
  • PhotoshopTofs: Mikrobiologe (Pixabay)
  • Sigismund Jacobi (Atelier Jacobi): Franz Kafka (Fotografie, um 1906); Wikimedia

2 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen wunderbaren und interessanten Artikel. Es hat mich zu vielen Gedanken angeregt. Mein Unbehagen an den Äußerungen Schäubles und der Diskussion im allgemeinen hat damit eine Einordnung gefunden. Sehr gern gelesen!- Weiter so!

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