Die Kraft der Erwartung

EINE KLEINE MEDITATION ZUR ADVENTSZEIT

Überarbeitete Fassung 2020

Die Adventszeit hat für mich schon immer den Zauber einer ganz besonderen Erwartung ausgestrahlt. Zeit, diesem Gefühl einmal auf den Grund zu gehen.

Jedes Jahr befällt mich in der Adventszeit aufs Neue ein unbestimmtes Gefühl der Erwartung. Es ist nicht unbedingt ein Gefühl, als würde nun alles besser werden und als würden sich meine Probleme auf wundersame Weise in Luft auflösen – aber doch die stille Hoffnung, zumindest alles in einem anderen Licht sehen und so, wenn nicht schon zu einem kompletten Neuanfang, so doch zumindest zu einer Neuordnung meines Lebens gelangen zu können.
Ich weiß natürlich, dass dieses Gefühl ganz irrational ist und lediglich auf einer Sozialisation beruht, die – ob es mir nun gefällt oder nicht – von einer christlichen Kultur geprägt ist. Dennoch blüht diese Erwartung jedes Jahr so zuverlässig in mir auf wie im März die Krokusse. Deshalb denke ich, dass ich mir zumindest einmal Rechenschaft ablegen sollte über diese merkwürdigen Gefühlsaufwallungen.

Zunächst einmal ist die Erwartung ja etwas anderes als das Warten. Das Warten führt regelmäßig dazu, dass sich die vergehende Zeit meinem Bewusstsein in unangenehmer Weise aufdrängt. Dies kann sich – wie an der Bushaltestelle oder bei einem verspäteten Gast – schlicht in Langeweile oder Missmut manifestieren. Es kann jedoch – wie beim Zahnarzt oder im Falle der Liebenden, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt verabredet haben – auch mit Gefühlen der Sorge oder der ungeduldigen Vorfreude verbunden sein.
Im Unterschied zum Warten enthält die Erwartung stets ein Element der Unbestimmtheit. Zwar kann sie – wenn etwa irgendeine Autorität von mir ein bestimmtes Verhalten erwartet – sich durchaus auch auf das Eintreffen eines genau umrissenen Ereignismusters beziehen. Auch in diesem Fall bleibt sie jedoch notwendig mit Ungewissheit assoziiert – denn es entspricht ja dem Wesen der geäußerten Erwartung, dass es keine hundertprozentige Sicherheit darüber gibt, ob ich den Erwartungen entsprechen werde.

Diese Unbestimmtheit der Erwartung ist auch für die Adventszeit charakteristisch. Schließlich richtet sich die Erwartung hier ja nicht konkret auf die Geburt Christi. Was man sich unbewusst erhofft, ist doch wohl eher, dass einen die Ahnung des Wunderbaren, ein Schauer des geheimnisvollen, ungeheuerlichen Ereignisses, wie es die Menschwerdung Gottes bedeutet, streift.
Ich weiß, das klingt sehr stark nach Kanzel und Glaubensdogmen. Dabei würde ich noch nicht einmal von mir behaupten, dass ich ein im strengen Sinne „gläubiger“ Mensch bin. Ich würde mich allerdings durchaus als religiösen Menschen bezeichnen. Meine Religiosität ruht dabei auf zwei Pfeilern. Zum einen denke ich, dass eine religiöse Grundhaltung gegenüber der „Schöpfung“ – verstanden als Gesamtheit der uns bekannten, belebten und unbelebten Materie – eine wichtige Voraussetzung für jene Achtung der Natur gegenüber ist, die wir für deren Bewahrung benötigen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Religiosität auf dem Glauben an einen bestimmten Gott bzw. eine bestimmte Götterwelt beruht, ob sie animistischer Natur ist oder sich schlicht, wie bei Schelling, auf das Postulat einer alles durchwaltenden Weltseele bezieht.

Zum anderen bin ich aber mit den Agnostikern auch der Überzeugung, dass sich die Existenz Gottes weder beweisen noch ausschließen lässt. Denn wenn es einen Gott gäbe, müsste dieser als solcher doch notwendig so beschaffen sein, dass er die Grenzen meines Geistes transzendieren würde, ich ihn also unmöglich in seinem Wesen erfassen könnte.
Analog hierzu ist auch die Erwartung in der Adventszeit eine Erwartung des Glaubens, nicht des Wissens. Eben dadurch grenzt sich die Erwartung hier auch von dem bloßen Warten ab. Als Teil der arbeitenden Bevölkerung oder als Familienmitglied mag ich wohl auf den Weihnachtsabend warten – sei es mit einem Gefühl der Vorfreude auf freie Tage und Gänsebraten, sei es mit einem Gefühl der Bangigkeit beim Gedanken an die Zwistigkeiten, die Jahr für Jahr im Gefolge der freigesetzten Emotionen hochkochen. Als religiöser Mensch erwarte ich dagegen jedes Jahr aufs Neue etwas Unbestimmtes, etwas, das ich gedanklich nie ganz fassen und in Worte kleiden kann, etwas, an das zu glauben und auf das zu hoffen meinem vernunftbegabten Geist widerstrebt, das ich mir aber nichtsdestotrotz immer wieder neu erträume.

So betrachtet, ist die Erwartung, die mich in der Adventszeit erfüllt, auch eine Variante des Glaubens an die Kraft des Utopischen – daran also, dass Hoffnung und Realität zu jener harmonischen Deckung gebracht werden können, die, im Lichte der Vernunft betrachtet, unmöglich erscheint. Und wie die Utopie zwar nie Wirklichkeit werden kann – weil sie dann eben keine Utopie mehr wäre –, mir aber durch meinen Glauben hieran die Kraft zum Handeln gibt, ist auch der religiöse Glaube ein Paradoxon, das trotz oder gerade wegen der Unmöglichkeit, sich seines Ziels zu vergewissern, zu einem inneren Kraftquell wird.
Umgekehrt gilt das, was Sören Kierkegaard über den Glauben gesagt hat – dass er sich nicht als Resultat eines vernünftigen Abwägens und logischen Deduzierens einstellt, sondern nur als „Sprung“ ins Ungewisse erlangt werden kann – auch für das Wesen des Utopischen: Hoffnung gibt die Utopie nur dem, der sie nicht an der Realität eines Alltags misst, der ihn mit seinen ewig unzureichenden Strukturen und hemmenden Handlungszwängen nur entmutigen kann. Dies heißt nicht, dass die Utopie nicht konkret werden kann. Vielmehr gilt gerade umgekehrt, dass ihr Wert sich – ebenso wie im Falle des Glaubens – im Umgang mit einem konkreten Alltag bewähren muss. Nur werden die Maßstäbe des Handelns dabei eben nicht aus den Normen und Deutungsmustern dieses Alltags abgeleitet, sondern aus jenem anderen, erträumten Reich, auf das wir erwartungsvoll zusteuern, ohne es je erreichen zu können.

Bildnachweise: Caroline F. Williams (1836 – 1921): Winterabend (Ausschnitt).
Gottfried Schalcken (1643 – 1706): Junge Frau mit Kerze (zwischen 1670 und 1675); Galleria degli Uffizi, Florenz.
Waldemar Flaig (1892 – 1932): Stern von Bethlehem, 1920; Franziskanermuseum Villingen.
Free-Photos: Milchstraße (Pixabay)
Thomas Cole (1801 – 1848): Der Engel erscheint den Hirten (1833/34); Chrysler Museum of Art, Norfolk/Virginia.
Thomas Cole: Die Lebensreise: Das Alter (1842; Ausschnitt); National Gallery of Art, Washington.

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für diesen wunderbaren Text. Solche Gedanken haben gerade jetzt etwas sehr Berührendes. Vielleicht sollten wir den Teil-Lockdown zur Besinnung nutzen.Wir genießen schon das Licht der ersten Adventskerze. Auch ein Zeichen der „Erwartung“.

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