Die polnische Justizreform und das Problem der Gewaltenteilung
Der polnische Justizminister hat die Unabhängigkeit der deutschen Justiz angezweifelt – Retourkutsche oder bedenkenswerte Kritik?
Der Vorwurf des polnischen Justizministers, die Politik nehme in Deutschland zu großen Einfluss auf die Besetzung höchstrichterlicher Stellen (1), muss auf zwei Ebenen betrachtet werden.
Die erste Ebene ist die der subjektiven Beweggründe für den Vorwurf. Die zweite Ebene ist die der konkreten Verhältnisse, auf die sich der Vorwurf bezieht.
Fangen wir mit der ersten Ebene an.
Die EU als Finanzier autoritärer Staatsreformen in Mittelosteuropa
Der Rechtsstaatsmechanismus als Reinigungsprozess
Unangenehmer Blick in den Spiegel
Besetzung höchstrichterlicher Posten in Deutschland: Gewaltenteilung light
Hohes Gericht, niedrige Qualifikation?
Notwendigkeit einer Reform der Richterernennung
Praxis der Besetzung höchstrichterlicher Posten in anderen EU-Ländern
Die EU als Finanzier autoritärer Staatsreformen in Mittelosteuropa
Wie andere Länder Mittelosteuropas – allen voran Ungarn –, nutzt auch Polen EU-Gelder für die schleichende Einführung autoritärer Strukturen. Die konkreten Vorgehensweisen sind dabei nicht überall gleich. Die einzelnen Regierungen lernen jedoch voneinander und kopieren die für ihre Zwecke besonders vielversprechenden Maßnahmen voneinander.
Als besonders effektiv haben sich erwiesen:
• die Austrocknung einer unabhängigen Medienlandschaft durch Bevorzugung regierungstreuer und Drangsalierung regierungskritischer Medien. Ersteres erfolgt beispielsweise durch Schaltung gut bezahlter Anzeigen im Regierungsauftrag, Letzteres etwa durch willkürliche Finanzprüfungen, Lizenzentzug und im Extremfall feindliche Übernahme, also Aufkauf einzelner Medien oder Mediengruppen durch befreundete Oligarchen (2);
• die Verteilung sozialer Wohltaten zur Sedierung der Bevölkerung. Besonders beliebt: Wohltaten, die zugleich das konservative Weltbild der Autokraten unterstützen, wie etwa im Falle des polnischen Kindergeldes (3);
• die Lenkung der Fördergelder für die Kommunen entsprechend der Zugehörigkeit zum Regierungslager (4).
Der Rechtsstaatsmechanismus als Reinigungsprozess
Der Vorteil dieser Form von monetärem Autoritarismus liegt darin, dass der Aufbau der Machtstrukturen ohne bzw. mit einem Minimum von unmittelbarer Gewaltanwendung vonstatten gehen kann. Dem entspricht der paradoxe Begriff der „illiberalen Demokratie“, mit dem der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sein autoritäres Regime ummäntelt (5).
Eingelullt von den Geldgeschenken der Regierung, merkt ein Großteil der Bevölkerung gar nicht, wie die Freiheitsrechte der Menschen sukzessive beschnitten werden. Da diese Geldgeschenke aus EU-Töpfen finanziert werden, ist es nur folgerichtig, hierauf mit einem Rechtsstaatsmechanismus zu reagieren, der die Verwendung der Gelder an die Rechtsnormen der EU bindet.
Unangenehmer Blick in den Spiegel
Der Umbau des Justizwesens in Polen ist ein entscheidender Schritt zur Abschaffung der Gewaltenteilung. Das kaum verhohlene Ziel der Umstrukturierungen ist es, der Regierung die volle Kontrolle über den Justizapparat zu ermöglichen und so ungestört die eigene Agenda umsetzen zu können (6).
Wenn der polnische Justizminister nun die Unabhängigkeit deutscher Richterinnen und Richter an den höchsten deutschen Gerichten in Frage stellt, so ist das vor diesem Hintergrund eindeutig als Retourkutsche erkennbar. Indem mit dem Finger auf andere gezeigt wird, soll von den eigenen Gleichschaltungsbemühungen abgelenkt werden.
Allerdings können wir die Augen vor einem wichtigen Detail nicht verschließen: Die Unabhängigkeit der höchsten Gerichte ist in Deutschland nicht durch die formalen Strukturen der Richterernennung garantiert, sondern allein durch den demokratischen Konsens der Entscheidungsträger.
Überspitzt formuliert: Wenn in Deutschland eine PiS-Regierung an die Macht käme, müsste sie das Justizwesen gar nicht erst in ihrem Interesse umbauen. Sie könnte einfach die vorhandenen Strukturen nutzen, um die Justiz vollumfänglich unter ihre Kontrolle zu bringen.
Besetzung höchstrichterlicher Posten in Deutschland: Gewaltenteilung light
Zwar sind die Bundesrichter in Deutschland in ihren Entscheidungen nicht von der Politik abhängig. Da sie jedoch von einem Richterwahlausschuss ernannt werden, der sich aus den Justizministern der Länder und 16 Bundestagsabgeordneten zusammensetzt, kann die Politik durch eine entsprechende Personalauswahl zumindest auf die Entscheidungstendenzen Einfluss nehmen.
Dies gilt auch für die Richter am für die Gewaltenteilung besonders wichtigen Bundesverfassungsgericht, die je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Hierbei ist es gängige Praxis, das Vorschlagsrecht für die zu Ernennenden gemäß den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen unter den Parteien aufzuteilen. Diese parteipolitische Einfärbung der Rechtsprechung widerspricht klar dem Geist der Verfassung.
Hohes Gericht, niedrige Qualifikation?
Hinzu kommt, dass gerade für eine Berufung in die höchste Institution der deutschen Justiz – das Bundesverfassungsgericht – keine besonderen Qualifikationen erforderlich sind. Laut dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) ist es hierfür ausreichend, das 40. Lebensjahr vollendet zu haben und über „die Befähigung zum Richteramt nach dem Deutschen Richtergesetz“ zu verfügen (7).
Auf diese Weise konnte 2011 etwa der ehemalige saarländische Ministerpräsident aus der Politik ans Bundesverfassungsgericht wechseln, obwohl er lediglich zwischen 1986 und 1990 als Richter in der deutschen Provinz (am Amtsgericht Ottweiler und am Landgericht Saarbrücken) gewirkt hatte.
Hinzu kam, dass ausgerechnet dieser Kandidat 2010 als saarländischer Regierungschef vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes wegen unzulässiger Wahlwerbung gerügt worden war. Der Nachweis verfassungswidrigen Verhaltens war offenbar kein Hinderungsgrund für die Berufung an das höchste deutsche Organ zum Schutz der Verfassung (8).
Notwendigkeit einer Reform der Richterernennung
Es gibt mindestens zwei Gründe, aus denen das System der Besetzung höchstrichterlicher Posten in Deutschland reformiert werden sollte.
Zum einen liefert es in seiner Verflechtung mit politischen Interessen jenen Argumente, die die Justiz in ihren Ländern vollständig unter die Kontrolle der Regierung bzw. der herrschenden Partei bringen wollen.
Zum anderen darf die Unabhängigkeit der Justiz aber auch nicht von weichen Faktoren wie einer demokratischen Kultur abhängig sein. Vielmehr muss diese Unabhängigkeit gerade auch dann gewährleistet, wenn sie durch eine undemokratische Kultur in Gefahr gerät.
Wie schnell aus Machtübernahme „Machtergreifung“ werden kann, haben wir in Deutschland leidvoll erfahren müssen. Deshalb sollten gerade wir darauf bedacht sein, dass die Strukturen des Justizwesens selbst dessen Unabhängigkeit garantieren.
Reformvorschläge
Im Interesse einer funktionierenden Demokratie sollte jeder Anschein von politischer Einflussnahme auf die Justiz vermieden werden. Über die personelle Zusammensetzung der höchsten Gerichte sollte deshalb von einem eigenen juristischen Gremium entschieden werden. Diesem Gremium können Fachleute aus den jeweiligen Gebieten sowie ehemalige Mitglieder der obersten Gerichte angehören.
Wer an ein höchstes Gericht berufen wird, sollte zudem auch über höchste Qualifikationen verfügen. Die einfache „Befähigung zum Richteramt“ reicht dafür nicht aus. Vielmehr müssen die entsprechenden Personen außergewöhnliche Leistungen vorweisen, die sich sowohl in der praktischen Rechtsprechung als auch in einschlägigen Publikationen zeigen sollten.
Um Interessenkollisionen und Kungeleien zu vermeiden, dürften Mitglieder des Wahlgremiums sich weder während noch nach ihrer Mitwirkung in demselben um eine Bundesrichterstelle bewerben. Die Mitgliedschaft sollte, analog zu den Parlamentsabgeordneten, auf vier Jahre, mit einer Möglichkeit der Verlängerung auf acht Jahre, begrenzt sein.
Praxis der Besetzung höchstrichterlicher Posten in anderen EU-Ländern
Nicht unerwähnt bleiben soll zum Schluss, dass auch in anderen EU-Ländern die Unabhängigkeit der Justiz keineswegs so selbstverständlich ist, wie es die derzeitige Diskussion über die polnische Verletzung der Rechtsstaatsnormen vermuten lässt.
So hat etwa in Spanien das vom Partido Popular, der konservativen Volkspartei, dominierte Oberste Gericht (Tribunal Supremo) erst ein wegweisendes Autonomiestatut für Katalonien für verfassungswidrig erklärt und dann auf die daraus folgenden Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens mit absurd hohen Strafen für katalanische Politiker reagiert (9).
Auch in Frankreich werden die Mitglieder des dem deutschen Bundesverfassungsgericht vergleichbaren Conseil constitutionnel nicht nach Maßgabe ihrer juristischen Qualifikation berufen. Statt über Berufungskommissionen erfolgt ihre Ernennung je zu einem Drittel durch den Staatspräsidenten und die Präsidenten von Nationalversammlung und Senat. Ehemalige Staatspräsidenten sind automatisch Mitglieder in dem Gremium.
In Italien werden von den 15 Mitgliedern des Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) immerhin ein Drittel durch die Obersten Gerichte bestimmt. Zwei Drittel werden jedoch auch hier vom Staatspräsidenten ernannt bzw. vom Parlament gewählt. Völlige Unabhängigkeit von politischen Interessen ist damit auch hier nicht gegeben.
In Österreich werden die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs vom Bundespräsidenten auf Vorschlag von Bundesregierung und Parlament (Nationalrat und Bundesrat) ernannt. Politische Einflussnahme ist demnach auch hier ein Teil des Ernennungssystems. Allerdings werden an die Qualifikation der zu Berufenden höhere Anforderungen gestellt als in Deutschland. Bei zehn Jahren erforderlicher Berufserfahrung hätte Peter Müller dort nicht Verfassungsrichter werden können (10).
Fazit
Es ist sicher richtig, die polnische Regierung an der Demontage des Rechtsstaats in ihrem Land zu hindern. Andererseits genügt es auch nicht, mit dem Finger auf die antidemokratischen Umtriebe der PiS zu zeigen.
Wie heißt es so schön? Wer mit dem Finger auf andere zeigt, deutet mit vier Fingern auf sich selbst. Deshalb sollte die Kritik an den Vorgängen in Polen dafür genutzt werden, die Gewaltenteilung auch anderswo auf den Prüfstand zu stellen.
Am Ende könnten dann vielleicht einheitliche Regelungen für die Besetzung höchstrichterlicher Posten in der EU stehen. Auf diese Weise könnte die polnische Rechtsstaatskrise sogar zum Katalysator für eine bessere Gewaltenteilung in allen EU-Ländern werden.
Nachweise, Links, Anmerkungen
- Vgl. Tagesschau.de: Streit um Unabhängigkeit der Justiz: Polen kritisiert deutsche Richter-Nominierung. 18. Oktober 2021.
- Ein aktueller Fall der Beschränkung unabhängiger Berichterstattung aus Polen ist der Versuch der polnischen Regierung, die Medien des Landes noch stärker unter die Kontrolle polnischer Unternehmen zu bringen und so leichter kontrollieren zu können. Das Gesetz richtet sich konkret gegen den regierungskritischen Fernsehsender TVN, der zur US-Mediengruppe Discovery gehört (vgl. Sieradzka, Monika: Polen protestieren gegen „Repolonisierung“ der Medien. Deutsche Welle, 10. August 2021).
- Vgl. Kellermann, Florian: Neues Sozialgesetz in Polen: Mehr Kindergeld für mehr Wählerstimmen? Deutschlandfunk, Europa heute, 25. April 2019.
- Diese Form der gezielten Schaffung von Abhängigkeiten und der Belohnung politischer Loyalität, verbunden mit persönlicher Bereicherung, ist vor allem von Viktor Orbán und seinen Getreuen auf die Spitze getrieben worden. Der exzessive Missbrauch von EU-Fördergeldern hat auch den entscheidenden Anstoß gegeben für Finanzierungsmodelle, die einen größeren Teil der EU-Gelder direkt an die Kommunen fließen lassen (vgl. Kruchem, Thomas: Orbáns Clique – Wie Ungarns Oligarchen die EU ausnehmen. SWR 2, Wissen, 12. August 2021).
- Zu Geschichte und Bedeutung des Begriffs der „illiberalen Demokratie“ vgl. Schraeder, Peter: Wahlen ja, Liberalismus nein? Was ist „illiberale Demokratie“? Polyas.de, 21. November 2019.
- Eine detaillierte Übersicht zu der mittlerweile sehr komplexen Geschichte des Umbaus des polnischen Justizwesens findet sich auf wikipedia.de: Polnische Verfassungskrise und Justizreformen (seit 2015).
- Vgl. Bundesrat.de: Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993, zuletzt geändert durch Gesetz vom 13. Dezember 2003.
- Das Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 1. Juli 2010 lässt sich im Netz nachlesen, auch als PDF. Kernaussage: „Es wird festgestellt, dass die Antragsgegnerin dadurch gegen das Gebot der Neutralität des Staates im Wahlkampf (…) und den Grundsatz der Chancengleichheit bei Wahlen (…) verstoßen hat, dass sie vor der Landtagswahl vom 30.08.2009 durch die Publikation der Broschüre ‚Saarland – aber sicher‘ und durch die Veröffentlichung der Anzeigenserie ‚Der Ministerpräsident informiert‘ (…) sowie durch den Brief des Ministerpräsidenten des Saarlandes vom Mai 2009, der den Gehaltsabrechnungen der Beschäftigten des Landes beigefügt war, werbend in den Wahlkampf eingegriffen hat.“
- Vgl. RB: Katalanische Klage. Stichworte zum Verständnis des Katalonienkonflikts. Rotherbaron.com, 13. Februar 2019.
- Einen Überblick über Ernennungspraxis und Kompetenzen von Verfassungsgerichten in der EU bietet der – freilich schon etwas ältere – Beitrag von Christoph Hönnige: Verfassungsgerichte in den EU-Staaten: Wahlverfahren, Kompetenzen und Organisationsprinzipien. In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften (ZSE) / Journal for Comparative Government and European Policy Vol. 6, (2008), Nr. 3, S. 524 – 553.
Bild: Gerd Altmann: Justiz (Pixabay)
Kompliment! Wie immer ein fundierter, gut gegliederter, mit Nachweisen versehenener und lesbarer Artikel. Hätten Sie nur einen Irokesenkamm, grüne Haare o.ä. und wären youtubetauglich, dann müssten Sie mindestens den Henry-Nannen-Preis bekommen. Leider bekommt man den für weniger Inhalt und mehr Hype. Ich lese aber lieber Ihre fundierten Artikel als mir das selbsdarstellerische YouTube-Gezappel anzuschauen😀
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