Stichworte zum Verständnis des Katalonienkonflikts.
Lluís Llach trägt nach der Rückkehr aus dem französischen Exil 1976 in Barcelona L’estaca vor, sein Protestlied gegen die Franco-Diktatur, das heute zu einer Art katalanischer Freiheitshymne avanciert ist
„Siehst du nicht den Pfahl,
an den wir alle angebunden sind?
Wenn wir uns nicht von ihm losmachen,
werden wir niemals laufen können.
Wenn wir mit vereinten Kräften ziehen, wird er umfallen.
Es kann nicht lange dauern,
bestimmt wird er fallen, fallen, fallen,
er muss ja schon ganz morsch sein.“
(aus Lluís Llach: L’estaca/Der Pfahl; Anspielung auf l’estat: Der Staat)
Das katalanische Unabhängigkeitsreferendum liegt nun schon bald anderthalb Jahre zurück. Jetzt, da die spanische Justiz den Prozess gegen die wegen „Rebellion“ angeklagten Initiatoren des Referendums eingeleitet hat, ist der katalanische Konflikt wieder verstärkt in den Medien präsent.
Leider muss man dabei feststellen: An der Art der Darstellung hat sich nichts geändert. Noch immer ist von den katalanischen „Separatisten“ die Rede, die sich für ihr Handeln vor spanischen Gerichten verantworten müssen. Allein schon diese Sprachregelung färbt den Konflikt in einer ganz bestimmten Weise. Sie unterstellt zum einen, dass die Unabhängigkeitsbefürworter sich von einem Gebilde ablösen wollen, dem sie natürlicherweise zugehören. Und sie suggeriert zum anderen, dass über diesen Wunsch nach rechtsstaatlichen Maßstäben befunden wird.
Hinzu kommt, dass der Begriff „Separatisten“ durch die Assoziation mit den von Russland gelenkten ostukrainischen „Separatisten“ sowie insbesondere den Brexit toxisch wirkt. Implizit unterstellt er Gewaltbereitschaft und einen nationalistischen Eigensinn, der in Zeiten von Globalisierung und europäischer Integration anachronistisch wirkt.
Angesichts dieser einseitigen Darstellungstendenzen erscheint es mir sinnvoll, hier noch einmal kurz ein paar wesentliche Fakten zu dem Konflikt aufzulisten, die in der Berichterstattung zu kurz kommen. Ausführlichere Analysen finden sich in meinen früheren Beiträgen zu dem Thema, auf die ich weiter unten verlinke.
- Aktuelle Genese des Konflikts. Der Wunsch der Katalanen nach mehr Selbstbestimmung war 2006 durch ein erweitertes Autonomiestatut eingelöst worden. Dieses war nicht nur vom spanischen Parlament ratifiziert und vom spanischen König unterzeichnet worden. Vielmehr hatten auch die Katalanen ihm in einem Referendum mit großer Mehrheit zugestimmt. Der konservative Partido Popular, die spanische Volkspartei, hatte sich mit diesem historischen Kompromiss jedoch nicht abfinden wollen und vor dem Verfassungsgericht dagegen geklagt. Dieses hat 2010 das erweiterte Autonomiestatut in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Erst durch diese höchstrichterliche Zurückweisung des Volkswillens hat ein Großteil des katalanischen Volkes das Vertrauen in den spanischen Staat verloren. Erst dies hat der Unabhängigkeitsbewegung den Schwung verliehen, der im Herbst 2017 in das Unabhängigkeitsreferendum gemündet ist.
- Historische Genese des Konflikts. Im 17. Jahrhundert versuchten sowohl Portugal als auch Katalonien, sich von Spanien zu lösen. Während es den Portugiesen jedoch bereits 1640 gelang, die 60 Jahre währende Herrschaft Spaniens über ihr Land zu beenden, blieben die entsprechenden Bemühungen der Katalanen erfolglos. Stattdessen wurden ihre Autonomierechte im Anschluss an den Spanischen Erbfolgekrieg, in dem Katalonien die Gegner des spanischen Königs Philipps V. unterstützt hatte, immer weiter beschnitten – bis hin zur gewaltsamen Unterdrückung der katalanischen Sprache und Kultur unter Diktator Franco, der die Katalanen gleich aus zwei Gründen bekämpfte: wegen ihres Beharrens auf kultureller Eigenständigkeit und wegen ihrer republikanischen Haltung. Damit hat sich hier schlicht das Recht des Stärkeren durchgesetzt. Wären die katalanischen
Verfassungsgericht den historischen Kompromiss im Katalonienkonflikt zu Fall gebracht hat. Von allen spanischen Parteien ist der Partido Popular am tiefsten im Franquismus verwurzelt: Die Alianza Popular, aus der er 1989 hervorgegangen ist, entstand 1976 aus einem Zusammenschluss von sieben Parteien, von denen sechs ehemalige Franco-Minister zu Vorsitzenden hatten. So wurde die Partei zu einem Sammelbecken für die alte franquistische Elite. - Legalität und Legitimität. Die spanische Justiz begründet den Vorwurf der „Rebellion“ damit, dass das katalanische Unabhängigkeitsreferendum gegen die Einheit der spanischen Nation gerichtet und damit verfassungswidrig gewesen sei. Nach dieser legalistischen Argumentation hätten jedoch beispielsweise auch die baltischen Staaten nie wieder unabhängig werden dürfen. Denn natürlich waren einseitige Unabhängigkeitserklärungen einzelner Staatsteile in der sowjetischen Verfassung nicht vorgesehen. Der eingeforderte Respekt vor der verfassungsmäßigen Ordnung dient damit lediglich dazu, den Dominanzanspruch der Hegemonialnation zu zementieren. Die legalistische Argumentation soll den legitimen Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung kriminalisieren.
- Nationalismus und nationale Selbstbestimmung. In Katalonien waren zur Zeit des Bürgerkriegs die Gegner Francos klar in der Überzahl. Sie bezeichneten sich hier allerdings nicht als „Volks-„, sondern als „Linksfront“, was den internationalistischen Charakter des Widerstands unterstrich. Noch heute gehört die Linkspartei CUP (Candidatura d’Unitat Popular) zu den entschiedensten Befürwortern einer katalanischen Unabhängigkeit. Es geht hier also eher um Internationalismus als um Nationalismus, das Ziel ist eine weltoffene, in die Europäische Union integrierte Republik. Nicht die Katalanen sind damit Nationalisten, sondern ihre spanischen Gegner, die ihnen das Recht auf nationale Selbstbestimmung verweigern.
- Die Rolle der EU. Die Europäische Union ist nicht einfach nur eine Union von Staaten, die sich aus pragmatischen Gründen zu einer Kooperation auf bestimmten Gebieten zusammengeschlossen haben. Sie versteht sich vielmehr auch als menschenrechtsbasierte Wertegemeinschaft. Dieses Selbstverständnis ist bedroht, wenn nationale Selbstbestimmungsrechte – und damit, wie der harte Umgang mit den katalanischen Unabhängigkeitsbefürworten zeigt, auch individuelle Freiheitsrechte – missachtet werden. Damit lässt sich aber auch nicht sagen, dass es sich bei dem Konflikt um Katalonien um eine rein innerspanische Angelegenheit handelt. Vielmehr müsste die Europäische Union, ihrem eigenen Selbstverständnis nach, hier eine Vermittlerrolle übernehmen.
Wenn die maßgeblichen EU-Institutionen sich einer solchen Vermittlerrolle explizit verweigern, so zeigt dies, dass die autoritären Tendenzen, wie sie etwa in Polen, Ungarn und Rumänien offen zutage treten, eben keine Ausnahmeerscheinungen darstellen. Vielmehr manifestiert sich darin ein undemokratischer Geist, der beispielsweise auch in dem geplanten EU-Leistungsschutzrecht zu spüren ist. Denn auch hier wird ja ein Gesetzesvorhaben, das nach Auffassung einschlägiger Experten und der Meinung von Millionen Unterzeichnern einer entsprechenden Petition die Funktionsweise des Internets und damit den freien geistigen Austausch massiv beschränken würde, auf autoritäre Weise durchzusetzen versucht.
Es scheint unter den Funktionsträgern der EU mittlerweile ein gehöriges Misstrauen gegenüber dem Volk und eine Abneigung gegenüber dem Dialog mit seinen Vertretern zu geben – was in einer demokratisch verfassten Staatengemeinschaft, gelinde gesagt, bemerkenswert ist. Damit aber nehmen auch die Bindekräfte in der Gemeinschaft ab. Denn echte Gemeinschaft entsteht nur dort, wo sie sich organisch aus dem dialogischen Austausch sich frei entfaltender Individuen bzw. Völker entwickelt. Geht man den umgekehrten Weg und setzt eine abstrakte Norm, an die sich die Einzelnen anzupassen haben, so wird aus Gemeinschaft Totalitarismus.
Eine solche abstrakte Norm aber ist der Nationalstaatsgedanke. Er ist nicht nur ein Konzept der Vergangenheit, sondern auch in sich unstimmig, da er auf dem Gedanken einer Hegemonialkultur basiert, also in einem heterogenen Staatswesen jenen Völkern die nationale Führungsrolle zuweist, die sich andere Völker unterworfen haben. Ein Ausweg daraus könnte es sein, endlich ein Konzept ernst zu nehmen und entsprechend umzusetzen, das EU-Politiker gerne in Sonntagsreden beschwören: das eines Europas der Regionen, in dem regionale Selbstbestimmung durch vielfältige, demokratisch legitimierte Vermittlungsinstanzen mit transnationaler Kooperation verknüpft wird.
Weitere Essays zum Thema:
No pasarán! Die Freiheit der Katalanen ist auch unsere Freiheit.
Das Recht des Stärkeren. Der Konflikt in Katalonien ist keine innerspanische Angelegenheit
L’estaca. Lluis Llachs katalanische Freiheitshymne und Variationen in anderen Sprachen.
Das Lied von Lluis Llach aus dem Jahre 1976 geht unter die Haut…Und in der Tat: Warum nicht über eine EU der Regionen nachdenken. Die nationalen Egoismen haben bislang wenig zur „Wertegemeinschaft“ in Europa beigetragen.
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