Der Erpressungsversuch des Halbstarken

Zur versuchten russischen Einflussnahme auf die Beitrittspolitik der NATO

Mit dem massiven Truppenaufgebot an der ukrainischen Grenze versucht der Kreml, den Westen zu einem Bruch des Völkerrechts zu bewegen. Dem nachzugeben, käme einer moralischen Bankrotterklärung gleich. Allerdings trifft den Westen durchaus auch eine Mitschuld an der Konfrontation.

Selbstbestimmungsrecht vs. Einflusszonen

Wer bedroht wen?

Das Menetekel der gescheiterten Appeasement-Politik

Unantastbarkeit des Völkerrechts

Putin als Geschöpf des Westens

Stärkung der russischen Demokratiebewegung

Nachtrag zur Kriminalisierung von Nichtregierungsorganisationen in Russland

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Selbstbestimmungsrecht vs. Einflusszonen

Wochenlang haben wir darüber spekuliert, was die russische Regierung mit dem Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze bezweckt.
Jetzt wissen wir es. Es geht schlicht und ergreifend um – Erpressung. Die Forderung lautet recht unverhohlen: Entweder ihr gebt uns, was wir verlangen – oder wir holen es uns mit Gewalt.
Das Denken Putins und seiner Getreuen folgt der Logik der Einflusszonen, in denen die Großmächte früherer Zeiten ihre Machtsphären gegeneinander abgesteckt haben. Die Betonung liegt dabei auf „früher“. Zu einer Weltgemeinschaft, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Kernelement des Völkerrechts ansieht, passt ein solches Denken nicht mehr.
So wirkt das Verhalten der Putinisten denn auch seltsam anachronistisch. Es erinnert an Drogenkartelle, die jeweils das Monopol auf bestimmte Bezirke und Regionen für die Abwicklung ihrer Geschäfte beanspruchen. Oder an die Monarchen aus der Zeit der Heiratsdiplomatie, die ihren Konkurrenten bestimmte Ehen aufgrund einer Kollision mit ihren eigenen dynastischen Plänen untersagen wollten. Oder an den Halbstarken auf dem Schulhof, der sich mit anderen Halbstarken verbündet, um Schwächeren leichter Schulbrot und Taschengeld abnehmen zu können.

Wer bedroht wen?

Aber – werden manche jetzt vielleicht sagen – stimmt es denn nicht, dass Russland von der NATO bedrängt wird? Gefährdet es etwa nicht die Sicherheit Russlands, wenn die NATO immer weitere Länder aufnimmt, die sich in unmittelbarer Nähe zu Russland befinden?
Gegenfrage: Was würdet ihr tun, wenn euer Nachbar in der Vergangenheit immer wieder Ansprüche auf euer Grundstück erhoben hätte? Wenn er es sich sogar von Zeit zu Zeit ganz einverleibt hätte, einfach so, weil er stärker war und ist als ihr? Würdet ihr euch nicht nach Verbündeten umsehen, mit deren Hilfe ihr die Ansprüche des Nachbarn abwehren könnt?
Natürlich verfolgt die NATO bestimmte strategische Interessen. Und natürlich ist ihr Handeln auch von der Logik des militär-industriellen Komplexes geprägt, der die Produktion immer neuer Waffensysteme vorantreibt und dafür die Mitglieder des Bündnisses zur Kasse bittet.
Das Militär ernährt das Militär, wie der Krieg den Krieg ernährt. Das ist auch bei der NATO nicht anders. Es ist aber keineswegs so, dass die NATO Druck auf andere Länder ausübt, damit sie ihr beitreten. Vielmehr haben viele Länder des ehemaligen Warschauer Pakts von sich aus Schutz unter dem Dach der NATO gesucht, um erneuten Übergriffen Russlands auf ihr Territorium vorzubeugen.
Das Verhalten der Kreml-Oberen gegenüber der Ukraine, aber auch in Georgien oder Moldawien gibt diesen Ländern im Nachhinein Recht. Hätten sie sich nicht mit Stärkeren verbündet, würden sie sich heute womöglich in einer ähnlich misslichen Lage befinden.
Es reicht ja schon ein kleiner Grenzkonflikt, um eine Mitgliedschaft in der NATO in weite Ferne zu rücken – denn eine Aufnahme setzt die vorherige Lösung der Konflikte voraus. So liegt in den von den Kreml-Potentaten gepflegten „frozen conflicts“ im ehemaligen sowjetischen Machtbereich durchaus ein zynisches Kalkül.

Das Menetekel der gescheiterten Appeasement-Politik

Was ist also zu tun? Sollte man der Putin-Riege nicht irgendwie entgegenkommen?
Schwierige Frage. Natürlich muss angesichts der Dicke-Hose-Politik des Kremls eine gesichtswahrende Lösungsformel gefunden werden. Aber Entgegenkommen? Wie würden wir reagieren, wenn die beiden Halbstarken auf dem Schulhof uns – als den Schwächeren – mit großer Geste den Kompromiss anbieten würden, uns nur die Hälfte unseres Taschengelds abzunehmen?
Wer sich auf das Recht des Stärkeren beruft, wird sich eben hierin bestärkt fühlen, wenn man auf seine Forderungen eingeht. Er wird das als Schwäche des Gegners auslegen und bei nächster Gelegenheit weitere Forderungen stellen. Dafür gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele – die Appeasement-Politik im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs ist nur das abschreckendste.

Unantastbarkeit des Völkerrechts

Wenn es aber zweifelhaft ist, ob ein Eingehen auf die Kreml-Drohungen eine Friedensdividende einbringt, ist ein Abrücken von den Prinzipien des Völkerrechts erst recht nicht gerechtfertigt. Im Endeffekt würde das auf einen Zweifrontenkrieg gegen den Frieden hinauslaufen.
So sollte stets klargestellt werden:

  1. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist unantastbar. Wer welchen Bündnissen beitritt, entscheiden die Völker autonom, unabhängig von den Interessen anderer Länder.
  2. Jedes Volk hat das Recht auf Selbstverteidigung. Wenn ein Land von einem anderen Land bedroht wird – was im Fall der Ukraine ja gerade ein expliziter Teil der russischen Politik ist –, darf ihm niemand das Recht verwehren, sich gegen mögliche Angriffe zu wappnen.

Putin als Geschöpf des Westens

Eine andere Frage ist, wie es dazu kommen konnte, dass die hoffnungsvollen Blüten der Perestroika-Jahre so rasch und so vollständig verblüht sind. Hier trifft den Westen in der Tat eine Mitschuld.
Das Triumphgeheul des Westens nach dem vermeintlichen „Sieg“ des Kapitalismus über den Sozialismus klingt mir noch heute in den Ohren. Der offenen, an sich schon demütigenden Häme korrespondierte dabei auch ein entsprechendes Handeln. Ganz bewusst wurde auf die Naivität russischer Verhandlungspartner gesetzt, um die Wirtschaft hinter dem ehemals „eisernen“ Vorhang für die Interessen westlicher Konzerne zu öffnen.
In der Folge wurden – ähnlich wie im Ostdeutschland der Nachwendezeit – volkseigene Betriebe nicht etwa modernisiert, sondern schlicht abgewickelt oder an in- und ausländische Raubtierkapitalisten verhökert. Das Ergebnis war eine massive Wirtschaftskrise mit Inflation und empfindlichen Kaufkrafteinbußen der Bevölkerung. Mit knurrendem Magen erschienen die Freiheitseinschränkungen der Sowjetzeit vielen plötzlich halb so schlimm.
Erst dieses Gefühl, von westlichen Konzernen und Wirtschaftsdoktrinen an den Rand des Ruins getrieben worden zu sein, hat Putin an die Macht gespült. In gewisser Weise ist er also ein Produkt des Westens – sozusagen ein Zerrbild der kapitalistischen Überheblichkeit, ein aus dieser hervorgegangener Homunkulus, der den Größenwahn seiner „Schöpfer“ in die Begriffswelt der alten Sowjetherrlichkeit überträgt.
Dem entspricht auch, dass Putin die Rückkehr zu den Idealen der Sowjetzeit nur nach außen hin vortäuscht, während er und die Seinen hinter den Kulissen die kapitalistische Raubtiermentalität in geradezu absurder Übertreibung ausleben. Belege dafür liefern neben den Panama-Papers auch immer wieder die Enthüllungen des Teams um Alexej Nawalny.

Stärkung der russischen Demokratiebewegung

Diese Entwicklungen lassen sich heute nicht mehr rückgängig machen. Allenfalls kann das Bewusstsein für begangene Fehler uns zu einer größeren Sensibilität verhelfen und uns davon abhalten, die russische Kultur mit dem Putinismus zu verwechseln. Denn dadurch würden wir den gleichen Fehler noch einmal begehen und dem Land eine weitere Demütigung zufügen.
Stattdessen muss es das Ziel sein, die innerrussische Demokratiebewegung in ihrem Ziel, einen zivilgesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, zu bestärken und zu unterstützen. Angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Kriminalisierung von Nichtregierungsorganisationen durch die russische Regierung wird dies mit Sicherheit ein steiniger Weg sein. Eine andere Möglichkeit, nicht nur den Nachbarländern Russlands, sondern auch der russischen Bevölkerung selbst ein Leben auf dem Boden der Menschenrechte und des Völkerrechts zu ermöglichen, ist jedoch nicht in Sicht.

Nachtrag zur Kriminalisierung von Nichtregierungsorganisationen in Russland

Im Sommer 2012 wurde in der russischen Duma das Gesetz über „ausländische Agenten“ verabschiedet. Danach müssen sich zivilgesellschaftliche Organisationen als „ausländische Agenten“ registrieren lassen, wenn sie für ihre Arbeit Unterstützung aus dem Ausland erhalten.
Das Gesetz richtet sich gegen Organisationen, die „politische Aktionen“ mit dem Ziel finanzieren oder organisieren, „auf die Annahme von Entscheidungen staatlicher Organe oder auf die Veränderung der von diesen durchgeführten staatlichen Politik oder auf die Bildung der öffentlichen Meinung mit diesen Zielen einzuwirken“ (1). Nichtregierungsorganisationen, die keine dezidiert politischen Ziele verfolgen, sind dagegen vom Zwang zur Registrierung ausgenommen.
Die vom Gesetz formulierten Freiheiten für nicht dezidiert politisch ausgerichtete Organisationen enden allerdings dort, wo diese sich kritisch äußern. So wurde 2018 beispielsweise ein Diabetikerverein als „ausländischer Agent“ zwangsregistriert (was seit 2014 möglich ist), nachdem der Verein die Qualität des in Russland hergestellten Insulins hinterfragt hatte (2). Ebenso erging es Ende 2017 der russischen Truckervereinigung OPR, nachdem sie zu Protesten gegen ein von der russischen Regierung eingeführtes (und von einem Vertrauten Wladimir Putins betriebenes) neues Mautsystem aufgerufen hatte (3).
Das Gesetz hat damit eine umfassende Knebelungswirkung. Wer immer dem von den Staatsmedien verbreiteten Hochglanzbild des Putin-Staates widerspricht, muss sich als „ausländischer Agent“ brandmarken lassen. Das Stigma knüpft an die Antisabotagepropanda der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs an (4), so dass sein diffamierender Einfluss sich auf einer emotional-patriotischen Ebene entfaltet. Die Glaubwürdigkeit der betreffenden Organisationen ist dadurch selbst dann beschädigt, wenn sie ihre Arbeit allen Widerständen zum Trotz fortsetzen können.

  1. Zit. nach der (ansonsten eher putinfreundlichen) Onlinezeitschrift Russland-aktuellGesetz über „ausländische Agenten“ endgültig angenommen. Eintrag vom 13. Juli 2012.
  2. Vgl. Andrejewna, Nadjezhda: „Ich hielt es für meine staatsbürgerliche Pflicht, ein Zeichen zu setzen“. Nowaja Gazjeta, 12. Januar 2018 (online 27. Dezember 2017). [Artikel über den Studenten, der die angeblich unzulässigen politischen Aktivitäten des Diabetikervereins angezeigt hat; Russisch]
  3. Vgl. LabourNet Germany: Truckerprotest in Russland. Eintrag vom 30. Januar 2019, mit Links zur Entwicklung der Protestbewegung.
  4. Vgl. Skibo, Dari: Analyse: „Ausländischer Agent“. Russland-Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung, 25. Oktober 2016.

Bilder: Engin Akyurt: Gewalt und Gedanken (Montage aus einem Polizeiaufmarsch und der 1880 bis 1882 entstandenen Bronzeskulptur „Der Denker“ von Auguste Rodin); Clker-Free-Vector-Images: Militär (Pixabay)

Ein Kommentar

  1. Sehr gutes Essay! Besonders wichtig finde ich, dass zwischen „Russland“ und Russland unterschieden wird. Besonders spannend war für mich der Abschnitt „Putin ein Geschöpf des Westens“. Es ist ein Grundfehler westlicher Politik, dass Demokratie/Freiheit mit Kapitalismus gleichgesetzt wird. Welche Freiheit soll das sein, die man in einem täglichen Überlebenskampf bezahlt? Kapitalismus in totalitären Systemen mit kleinen „Almosen“ an das „Volk“ sind ja kein Problem: siehe China … tja und auch Russland.

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