Zur legitimatorischen Funktion des Leistungssports
Der Leistungssport ist, so scheint es, ein Spiegel der Wettbewerbsgesellschaft. Dabei ist die Verbindung von Leistung und beruflichem Fortkommen keineswegs so zwingend, wie es die Leistungsideologie verheißt.
Kompensatorische Funktion des Sports
Leistungssport, Wettbewerbsgesellschaft und Selbstoptimierung
Orientierung an Elitegedanken und militärischem Drill
Leistungsideologie und leistungsfeindliche Realität
Das Schauspiel einer heilen (Leistungs-)Welt
Ideologische Funktion des Leistungssports
Kompensatorische Funktion des Sports
In unserer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft stehen alle Erwerbstätigen ständig unter Druck: In der Fabrik muss in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Stückzahl an Produkten oder Produktteilen angefertigt werden, Verwaltungsangestellte müssen ihre Akten- bzw. Dateienberge abarbeiten, und wer an einer Hochschule etwas werden möchte, steht unter permanentem Publikationsdruck.
Dem Sport kommt dabei eine wichtige kompensatorische Funktion zu. Auf dem Heim- oder Crosstrainer kann man das überschüssige Adrenalin ausdampfen, bei Yoga und Muskelentspannungsübungen lässt sich das Rückgrat wieder ins Lot bringen und das im Berufsalltag in unzählige Einzelaspekte zersplitterte Selbst wieder zusammenflicken, und beim Volleyball- oder Frisbee-Workout auf der grünen Wiese kann über den Spaß an der Bewegung und am zweckfreien Spiel schlicht die Freude am Leben zurückgewonnen werden.
Es liegt folglich im ureigensten Interesse der Wirtschaft, sportliche Betätigung als Ausgleichsmaßnahme zum Stress am Arbeitsplatz zu fördern. Denn nur ein gesunder, ausgeglichener Mitarbeiter ist ein leistungsfähiger Mitarbeiter.
In der Tat unterstützen auch immer mehr Unternehmen durch eigene Fitnessangebote oder Gutscheine für Fitness-Studios sportliche Aktivitäten ihrer Angestellten. Auch das nachmittägliche „Power-Napping“ – das in Japan nicht nur sozial akzeptierte, sondern im Interesse der Produktivität sogar erwünschte Nickerchen zwischendurch – gilt längst nicht mehr als Beleg für Faulenzen. Immer mehr wird anerkannt, dass die Missachtung der banalen physiologischen Grundlagen des Arbeitens schädlich ist für den „Output“ eines Betriebs.
Leistungssport, Wettbewerbsgesellschaft und Selbstoptimierung
So wäre zu erwarten, dass auch bei der öffentlichen Darstellung sportlicher Aktivitäten die kompensatorische Funktion des Sports im Vordergrund steht.
Dies ist allerdings bekanntermaßen nicht der Fall. Die mediale Präsenz der „Leibesübungen“ ist vielmehr klar vom Leistungssport dominiert. Dieser aber beruht nicht auf dem Ideal ausgleichender körperlicher Betätigung, sondern treibt mit seiner bis zur physischen Zerrüttung reichenden Ausreizung des körperlichen Potenzials der Athleten den Leistungsgedanken der Wettbewerbsgesellschaft auf die Spitze.
Davon ist auch die private sportliche Betätigung immer stärker geprägt. Statt auf Bewegungsfreude und Ausgleich zum Berufsalltag ist diese immer häufiger auf Selbstoptimierung angelegt. Bestes Beispiel dafür sind die Fitnessuhren, die auf Wunsch jeden Schritt nach Leistungskriterien messen.
Ein solches Verständnis von Sport ist nicht stressabbauend. Es überträgt vielmehr den beruflichen Stress auf den privaten Bereich.
Dies gilt auch für den Bereich des Schulsports. Angesichts der zunehmenden Digitalisierung der Freizeitaktivitäten müsste gerade hier die Freude an der Bewegung im Vordergrund stehen. Stattdessen wird jedoch auch hier durch Notengebung und die Behandlung sportlicher Übungen unter Allgemeinbildungsaspekten der Leistungsgedanke betont.
Auf weniger „sportaffine“ Kinder und Jugendliche kann der Sportunterricht daher noch immer ebenso abschreckend wirken wie einst auf die gequälten Kadetten in Rainer Maria Rilkes Erzählung Die Turnstunde (1902).
Orientierung an Elitegedanken und militärischem Drill
Durch die 2016 von Bundesinnenministerium und Deutschem Olympischem Sportbund beschlossenen Reformen ist die Orientierung am Elitegedanken auch innerhalb des Leistungssportbereichs noch einmal verstärkt worden. Die Förderung wird demnach in Zukunft noch stärker davon abhängig gemacht, ob die Betreffenden ein hinreichendes Erfolgs-, sprich: Medaillenpotenzial aufweisen.
Außerdem muss sich, wer Sport professionell betreiben möchte, ganz den Trainingsplänen und -bedingungen der Leistungssportzentren unterwerfen, deren Anzahl noch einmal reduziert worden ist. Letzteres hat für nicht Wenige den Zwang zum Umzug zur Folge, wenn sie nicht aus der Förderung herausfallen wollen.
Wen diese Mischung aus Dominanzstreben und Einkasernierung an militärischen Drill erinnert, der liegt nicht ganz falsch. Denn ein Element der Leistungssportreform ist es explizit auch, die Fördermöglichkeiten über das Sportprogramm der Bundeswehr besser auszuschöpfen.
Leistungsideologie und leistungsfeindliche Realität
So stellt sich die Frage, welchen Grund es für die Propagierung eines Sportkonzepts gibt, das sowohl im Hinblick auf die Volksgesundheit als auch für die Produktivität der Erwerbstätigen dysfunktional ist. Ein wichtiger Aspekt dabei scheint zu sein, dass in unserer Gesellschaft zwar ständig der Leistungsgedanke betont wird, de facto aber oft ganz andere Kriterien entscheidend sind für das berufliche Fortkommen.
Wer in einer Fabrik jahrelang Höchstleistungen in der Produktion erbringt, kann am Ende zum Dank trotzdem „freigesetzt“ werden. Entscheidend ist nicht die Lebensleistung der Beschäftigten, sondern die globale Strategie eines Unternehmens, das die gealterte Arbeitskraft womöglich mit einem ungünstigen Inpout-Output-Verhältnis assoziiert.
Ebenso erregt, wer in einer Behörde immer brav seine Aktenberge abarbeitet, dadurch eher Misstrauen, anstatt sich für höhere Aufgaben zu empfehlen. Hoher Arbeitseifer bringt nämlich nicht nur eine erhöhte Sensibilität für die bequemlichkeitsbedingte Fehlerquote der anderen mit sich, sondern auch für die mögliche Mangelhaftigkeit der Arbeitsvorgaben.
Auch an den Hochschulen führt das Kooptationsprinzip bei der Besetzung fester akademischer Stellen eher zur Förderung des Mittelmaßes. Schließlich möchte kein Lehrstuhlinhaber von einem geistigen Überflieger an seiner Seite in den Schatten gestellt werden.
Das Schauspiel einer heilen (Leistungs-)Welt
Im Leistungssport dagegen gibt es eben jene automatische Verknüpfung zwischen erbrachter Leistung und Erfolg, die in der Gesellschaft sonst nicht existiert. Wer eine Hundertstelsekunde schneller ist als jemand anders, steht auf dem Podium, während die um einen Wimpernschlag Langsameren in den Schmutz der Bedeutungslosigkeit getreten werden.
Damit eignet sich der Leistungssport in hervorragender Weise dafür, das Leistungsprinzip als objektives Selektionsmittel zu propagieren. Dabei kaschiert er eine soziale Realität, in der Leistung eben nicht das alleinige – und oft auch nicht das entscheidende – Kriterium für berufliches Fortkommen darstellt.
Darüber hinaus entfaltet der Leistungssport durch die Vorführung der Auswirkungen nicht ausreichender Leistung auch eine disziplinierende Wirkung. Entscheidend ist dabei, dass „Leistung“ stets in Bezug auf andere definiert wird. Die Würdigung einer Anstrengung ergibt sich nicht in erster Linie aus der Ausschöpfung der eigenen Leistungsmöglichkeiten, sondern aus dem Vergleich zu dem Leistungspotenzial anderer.
Auch zählt stets die Leistung an sich, nicht der Wert, der ihr objektiv zukommt. Niemand fragt, ob außer der Wintersportindustrie irgendwem damit gedient ist, dass sich jemand mit 100 km/h unter Lebensgefahr einen steinharten Abhang hinunterstürzt. Eben dies – das unhinterfragte Erbringen der eingeforderten Leistung – ist auch im Erwerbsalltag erwünscht.
Ideologische Funktion des Leistungssports
Der Leistungssport dient somit gleich in mehrfacher Hinsicht der ideologischen Stützung des Leistungsgedankens:
- Er suggeriert die objektive Messbarkeit individueller Leistung.
- Er vermittelt das Versprechen einer automatischen Verknüpfung von Leistung und Erfolg bzw. gesellschaftlicher Anerkennung.
- Er schafft eine Illusion von sozialer Gerechtigkeit: „Die da oben“ thronen zu Recht über allen anderen, weil sie leistungsfähiger sind als die breite Masse.
- Er stellt Leistung in einen Gruppenkontext und fördert so den Wettbewerbsgedanken. Was zählt, ist nicht das persönlich Erreichte. Dieses erhält seinen Wert vielmehr nur aus dem Vergleich mit der Leistungsfähigkeit anderer, was Selbstoptimierungsprozesse und die Marginalisierung von nicht „optimierbaren“ Menschen fördert.
- Er entkoppelt den Wert einer Leistung von der objektiven Funktion des Geleisteten und erleichtert so die Einforderung eines blinden, unkritischen Gehorsams.
Links
Die zentralen Aspekte der Neuorganisation des Leistungssports in Deutschland sind u.a. in einem Beitrag der Rheinischen Post aufgelistet: Die wichtigsten Punkte der Leistungssport-Reform.
Rainer Maria Rilkes Erzählung Die Turnstunde ist im Internet auf verschiedenen Portalen abrufbar, u.a. auch im Projekt Gutenberg.
Bild: Ryan McGuire: Frau bei einer Dehnübung (Pixabay)
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