Inklusion, Gender-Debatte und Leistungssport

Plädoyer für einen inklusiven Spitzensport

Inklusion, Emanzipation, Gender – für den Leistungssport sind das alles Fremdworte. Wie ließe sich der Spitzensport aus der soziokulturellen Steinzeit in die Jetzt-Zeit beamen?

Gender-Diskurs und Leistungssport

Der Fall Caster Semenya

Problematisches Schubladendenken

Der Leistungssport hinkt gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher

Inklusive Wettkampfkonzepte

Dopingbekämpfung als Nebeneffekt inklusiver Wettkampfkonzepte

Selbstentfaltung statt Konkurrenzkampf

Gender-Diskurs und Leistungssport

„Nix capito, aber ganz viel quatschiko!“ Dieser Standardspruch von Jolly Jumper, des Pferdes von Comic-Westernheld Lucky Luke, ließe sich auch auf die Beziehung von Gender-Diskurs und sozialer Realität beziehen.
Auch im Gender-Diskurs steht „quatschiko“ derzeit ganz hoch im Kurs – so hoch, dass dafür sogar die Sprache verbogen wird. Wenn es aber um die soziale Realität geht, gilt oft: „Nix capito!“
Man muss sich nur den Eistanz anschauen: die Frauen in einem Nichts aus Stoff, die Männer in besseren Trainingsanzügen. Und natürlich sind es die Männer, die führen, die die Frauen betatschen und wie einen Gegenstand durch die Luft werfen.
Um zu verstehen, wie weit wir hier von einer Überwindung der alten Geschlechterrollenstereotypien entfernt sind, muss man sich das Ganze nur mal in umgekehrter Form vorstellen: die Frauen in zweckmäßigen Trainingsanzügen, die Männer mit entblößtem Oberkörper, unten herum ein Fetzen Stoff, der ihr Gemächte betont. Und natürlich: die Frauen als Kugelstoßerinnen, die die Männer, Typ Skispringer-Leichtgewicht, durch die Lüfte werfen.
So etwas ist nicht nur kaum vorstellbar – ein entsprechendes Paar hätte auch keinerlei Chancen auf eine vordere Platzierung, selbst wenn die Leistung besser wäre als bei allen anderen Paaren.
Ja, gut: Auf den Toiletten ist der Gender-Diskurs mittlerweile angekommen. Der Sport aber, als wichtiger Spiegel der sozialen Realität, ist davon so gut wie unberührt. So werden zwar Unisex-Toiletten gefordert – im Leistungssport aber herrscht nach wie vor eine geradezu groteske Geschlechtertrennung.

Der Fall Caster Semenya

Das beste Beispiel dafür ist der Fall der südafrikanischen Mittelstreckenläuferin Caster Semenya. Diese war 2019 mit ihrem Anliegen, trotz erhöhter Testosteron-Werte an Frauen-Wettkämpfen teilnehmen zu dürfen, vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS gescheitert.
Das Gericht erkannte zwar an, dass die entsprechenden Bestimmungen des Leichtathletikweltverbandes IAAF, die eine Obergrenze für natürliche Testosteronwerte auf bestimmten Laufstrecken vorsehen, für Semenya eine Diskriminierung darstellten. Diese ist dem Gericht zufolge im Interesse gleicher Wettkampfbedingungen für alle Sportlerinnen jedoch zulässig.
Als Konsequenz aus dem Urteil ergab sich die paradoxe Situation, dass leistungssteigerndes Doping mit Testosteron zwar untersagt ist, andererseits aber ein ebenso gesundheitsgefährdendes „Anti-Doping“, also eine künstliche Absenkung des natürlichen Testosteronspiegels, als Voraussetzung für die Teilnahme an Wettkämpfen eingefordert wird. Die angeblichen Gesundheitsbedenken, die – neben der wettbewerbsverzerrenden Wirkung – in offiziellen Verlautbarungen der Sportverbände als Begründung für Dopingverbote angeführt werden, entlarven sich so als pure Heuchelei.

Problematisches Schubladendenken

Unbestreitbar ist allerdings, dass erhöhte Testosteronwerte einer Athletin in der Tat Vorteile gegenüber anderen Sportlerinnen einbringen können. Die Frage ist nur: Warum wird dies nicht mit einem Schulterzucken abgetan und schlicht als in der Biologie begründeter Vorteil einer Athletin akzeptiert? Offensichtlich rührt diese Frage an ein Grundprinzip des Leistungssports.
Wettkämpfe beruhen hier auf der Annahme, dass sich nicht die Aktiven mit der besten biochemischen Ausstattung durchsetzen, sondern diejenigen, die sich durch hartes Training und die Optimierung der für ihren Bereich nötigen Bewegungsabläufe die besten Ausgangsbedingungen erarbeitet haben. Hierfür sind Normvorstellungen über den biochemischen Haushalt von Sportlerinnen erforderlich, die sich über individuelle Besonderheiten und verschwimmende Geschlechtergrenzen – wie sie der Gender-Diskurs thematisiert – großzügig hinwegsetzen.
Dieses Denken führt dazu, dass die an den Wettkämpfen Teilnehmenden in feste Kategorien eingeteilt werden: Hier die Frauen, da die Männer. Hier die Gesunden, da die Behinderten. Hier die Jungen, da die Alten.
Intersexualität ist in diesen Kategorien nicht vorgesehen. Auch Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen, die ihr Handicap mit technischen Mitteln kompensieren – wie es bei dem ebenfalls aus Südafrika stammenden Oscar Pistorius der Fall war – passen nicht in dieses Konzept.

Der Leistungssport hinkt gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher

So steht der Leistungssport quer zu zentralen gesellschaftlichen Entwicklungen. Außer dem Gender-Diskurs betrifft dies auch die Inklusionsdebatte, die auf einer gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen am Gemeinschaftsleben abzielt.
Inklusion, Emanzipation, Gender – für den Leistungssport sind das alles Fremdworte. Der Spitzensport besteht auf einer Sonderbehandlung und Sonderbetrachtung von Menschen aufgrund ihrer körperlichen Ausstattung. Er lässt Frauen nicht nur in gesonderten Wettkämpfen antreten, sondern macht dabei das Frau-Sein auch noch an bestimmten körperlichen und biochemischen Merkmalen fest. Schon gar nicht ermöglicht er ein Denken über die Geschlechtergrenzen hinaus, das nicht mehr darauf besteht, Menschen in die Schublade „männlich“ oder „weiblich“ einzusortieren.
Will der Sport sich nicht von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen abkoppeln, steht er damit vor einem Problem: Einerseits muss er die starren Kategorisierungen aufgeben. Andererseits darf dies aber auch nicht dazu führen, dass einzelne Aktive oder ganze Gruppen von Menschen aufgrund ihrer physischen Voraussetzungen oder technischer Hilfsmittel Vorteile gegenüber anderen erhalten, die einen fairen Wettstreit unmöglich machen.

Inklusive Wettkampfkonzepte

Soll es hier eine Lösung geben, die allen gerecht wird, müssten sich die Wettkampfstrukturen grundlegend ändern. Dabei würden Männer und Frauen, körperlich Beeinträchtigte und Gesunde gemeinsam antreten. Diejenigen, die aufgrund ihrer körperlichen Ausstattung bzw. bestimmter Blut- oder Hormonwerte – die jeweils vor den Wettkämpfen gemessen werden müssten – gegenüber anderen bevorzugt oder benachteiligt sind, würden dann allerdings einen Bonus oder einen Punkteabzug erhalten, der die physischen Voraussetzungen weitgehend kompensiert.
Die derzeitigen Richtlinien müssten dafür nicht außer Kraft gesetzt werden. Sie würden dann aber nicht mehr zu Sonderbehandlung oder einem Ausschluss von den Wettkämpfen führen, sondern zu einer unterschiedlichen Bewertung der gezeigten Leistung.
Eine Läuferin mit natürlicherweise erhöhten Testosteron-Werten müsste nach diesen Maßgaben geringfügig später ins Rennen einsteigen als die anderen Läuferinnen. Bei einer Kombination mit Männerrennen und paralympischen Veranstaltungen würde das auch keineswegs diskriminierend wirken. Dann nämlich käme es ohnehin zu einer bunten Durchmischung der Teilnehmenden.
Bei anderen Wettkämpfen, in denen nicht alle gleichzeitig an den Start gehen – wie etwa dem Hochsprung oder dem Kugelstoßen – wären solche Kompensationsmaßnahmen noch leichter umzusetzen.

Dopingbekämpfung als Nebeneffekt inklusiver Wettkampfkonzepte

Die Regelung ist nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Auch im Eiskunstlauf oder beim Skispringen zählt ja nicht die nackte, messbare Leistung, im Sinne von erzielten Weiten und Sprunghöhe. Vielmehr werden hier auch weitere Faktoren – wie etwa die Haltung oder die Windverhältnisse – in die Beurteilung der Leistung miteinbezogen.
Auch für das zeitversetzte Starten bei Laufveranstaltungen gibt es – etwa in der Nordischen Kombination, wo entsprechend der erzielten Weite beim vorherigen Skispringen ins Rennen eingestiegen wird – Vorbilder.
Die Neuregelung böte zudem den Vorteil, Doping unattraktiv zu machen. Denn wenn die Erhöhung bestimmter Blutwerte stets schon vor Beginn des Wettkampfs entdeckt wird und schlicht dazu führt, dass negative Kompensationen in Kauf zu nehmen sind, wäre die Versuchung, sich durch Doping Vorteile zu verschaffen, fraglos nicht mehr so groß wie bisher.

Selbstentfaltung statt Konkurrenzkampf

Klar ist allerdings, dass die Umstellung auf inklusive Wettbewerbe einen echten Paradigmenwechsel im Spitzensport darstellen würde.
Bislang ist der Leistungssport ein getreues Abbild der Konkurrenzgesellschaft. Einer soll den anderen ausstechen, der Stärkste setzt sich gegen die anderen durch und beansprucht ganz allein den Siegerpreis.
Misst man dagegen alle, die an sportlichen Wettkämpfen teilnehmen, an ihren eigenen Voraussetzungen, so ist der sportliche Wettstreit mit anderen nicht mehr das einzige und eigentliche Ziel von Sportveranstaltungen. Mindestens ebenso wichtig ist dann die Frage, wie die Einzelnen aus ihren jeweiligen Voraussetzungen das Optimum herausholen können.
Sportliche Wettkämpfe würden so nicht mehr dem sozialdarwinistischen Ideal des „survival of the fittest“ folgen. Stattdessen wären sie ein Vorbild für das Streben des Individuums, sich selbst optimal zu entfalten, also das Beste aus den je eigenen Möglichkeiten zu machen.

Bild: Shark Studio: Kinder beim Strategiegespräch in Namibia (2017); Wikimedia commons

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