Inspirationsquelle für das frühe deutsche Kabarett

Otto Julius Bierbaums Roman Stilpe

Kabarettgeschichte(n)/2

Mit seinem 1897 erschienenen Roman Stilpe war Otto Julius Bierbaum ein wichtiger Ideengeber für das frühe deutsche Kabarett. Der Roman nimmt zudem zentrale Probleme vorweg, vor die sich das Kabarett später gestellt sah

Das Ziel: „Zur Kunst erhöhtes Leben“

1897 veröffentlichte Otto Julius Bierbaum in Berlin seinen Roman Stilpe. Dessen Protagonist, Willibald Stilpe, fühlt sich als Student abgestoßen von den starren Ritualen und Normen der Burschenschaften, die für ihn zwischen „rückständige[r] Romantik“, „Tugendbund“ und „traditionslose[r] Neugründung“ schwanken und ihm letztlich alle als bloße „Form ohne Inhalt“ erscheinen [1].

Stilpe gründet daraufhin ein „Geheim-Cénacle“, einen Kreis Gleichgesinnter, der  regelmäßig zu „Vergnügungen“ zusammenkommt, „die jedem viel lieber waren, als die Pflichten ihrer Verbindung“. Das Hauptziel der Vereinigung ist ein „zur Kunst erhöhtes Leben“ [2].

Dieses Motto fußt erkennbar auf lebensphilosophischen Ideen, wie sie etwa von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche vertreten wurden. Künstlerisch wurden diese Konzepte auch im Jugendstil umgesetzt. Dieser wollte mit den für ihn charakteristischen ineinander zerfließenden, tanzenden Gestalten einerseits die Dynamik des Lebens in der Kunst zum Ausdruck bringen. Andererseits sollten aber auch Kunst und Leben miteinander verbunden werden, indem Alltagsgegenstände künstlerisch verfeinert und überhöht wurden.

Ein dem Gott des Spottes gewidmetes Theater

In Bierbaums Roman dient der studentische Geheimbund für den Protagonisten allerdings nur als Vorbereitung auf die eigentliche Einlösung des mit diesem verbundenen Programms. Die anarchischen, von reichlichem Alkoholgenuss befeuerten Treffen sind vor allem eine Übung in geistiger Freiheit und der Entfesselung eines kritischen Geistes, der alle tradierten – staatlichen und künstlerischen – Autoritäten lustvoll in Frage stellt.

Während seine Kommilitonen nach dem Studium eine bürgerliche Laufbahn einschlagen, bemüht sich Stilpe abseits der Universität um eine Verwirklichung seines Traums von dem „zur Kunst erhöhte[n] Leben“. Dafür gründet er ein „Literatur-Variété-Theater“, dem er den programmatischen Namen „Momustheater“ gibt [3]. Er benennt es also nach dem scharfzüngigen griechischen Gott Momos, vor dessen hellsichtig-beißendem Spott selbst seine Götterkollegen zitterten.

Eine Premiere als öffentlicher Skandal

Die Beschreibung dieses Theaters nimmt in mancherlei Hinsicht die Entwicklung des späteren Kabaretts vorweg. Insbesondere betrifft dies die bewusste Abkehr vom bürgerlichen Kunstgenuss. Stattdessen amüsieren sich die Dichter hier „selber am meisten über ihre Programmnummern“, so dass oft unklar bleibt, ob sie ihre Darbietungen ernst meinen.Ein Beispiel dafür ist etwa ein Stück mit „interpunktionsloser Lyrik“, die zur „Pizzicatobegleitung von acht Bratschen deklamiert“ wird [4].

Die bewusste Provokation zeitigt im Roman die gewünschte Wirkung. Diese ist allerdings gleichbedeutend mit einem Fiasko für das Theater.

So verläuft die Premiere sehr „lärmhaft“, weil weder das Publikum noch die Presse die Mischung aus Amüsement und Kunst bzw. das zur Kunst erhobene Amüsement akzeptiert. Während das Publikum reines „Tingeltangel“ erwartet und sich an dem bisschen „Literatur und Kunst“ stört, beklagt die Kritik mit „der ganzen Entrüstung lackierter Elitemenschen“ den mangelnden künstlerischen Gehalt der Darbietungen [5].

Schmaler Grat zwischen Tingeltangel und lebensnaher Kunst

Die Tragik der von Stilpe entwickelten neuen Kunstform besteht darin, dass sie sich auf Dauer nicht auf dem schmalen Grat zwischen Variété und Theater halten kann. Kippt sie nach der einen Seite, wird sie vom Amüsierbetrieb aufgesogen. Kippt sie nach der anderen Seite, so fällt sie in die Arme der bürgerlichen Hochkultur.

Dieses Dilemma deutet nicht nur auf die Probleme voraus, vor die sich später auch das Kabarett gestellt sah. Auch der Jugendstil lief mit seinem Anspruch, die Kunst in den Alltag hineinzutragen, ständig Gefahr, sich in der kommerziellen Nippeskultur aufzulösen – also selbst vom Alltagsgrau entzaubert zu werden, anstatt den Alltag künstlerisch zu transformieren.

Vom zur Kunst erhöhtem Leben zum zur Kunst erhöhten Tod

Der Protagonist in Bierbaums Roman sieht für diesen Konflikt am Ende nur eine Lösung: An die Stelle des „zur Kunst erhöhte[n] Leben[s]“ setzt er den zur Kunst erhöhten Tod: Er inszeniert auf offener Bühne seinen eigenen Tod.

Damit gelingt ihm eine letzte, äußerste Provokation der bürgerlichen Unterhaltungskultur: Während er sich vor aller Augen erhängt, applaudiert das Publikum, „die scheinbare Naturwahrheit der Darstellung bewundernd, anhaltend, so dass sich der Vorhang dreimal über dem zuckenden Körper des Hängenden erheben“ muss [6].

Erst als die obligatorische Verneigung des Darstellers vor dem Publikum entfällt, ist nicht mehr zu übersehen, dass hier der reale Tod des Künstlers respektive der Kunst inszeniert wird.

Über Otto Julius Bierbaum

Otto Julius Bierbaum (1865 – 1910) hat in seinem relativ kurzen Leben ein erstaunliches vielfältiges Oeuvre hervorgebracht. Er wirkte als Redakteur für verschiedene literarische Zeitschriften, verfasste Gedichte, die sich in ihrem volkstümlichen Stil bewusst von der gedrechselten Sprache des George-Kreises absetzten, und betätigte sich ebenso als Bühnenautor wie als Verfasser von Prosatexten.

Bierbaums längere Prosa steht der Tradition des Schelmenromans nahe. So erschuf er in dem Kinderbuch Zäpfels Kern eine deutsche Variante des Pinocchio. Mit dem Roman Das Schöne Mädchen von Pao (1899) stellt er sich – wie er im Vorwort anmerkt – explizit in die Tradition der chinesischen „wilde[n] Geschichte“. Der Roman greift einen Stoff auf, den Bierbaum während seines Studiums am Berliner Orientalischen Seminar kennengelernt hat – wobei er sich nach eigener Aussage bemüht hat, „die wilde Geschichte noch ein bisschen wilder zu machen, als sie schon war“ [7].

Immer wieder überschreiten Bierbaums Texte auch die Grenze zum Grotesken. Dies gilt insbesondere für seine 1908 in drei Bänden erschienenen Sonderbaren Geschichten.

Dem literarischen Facettenreichtum entspricht im Privaten Bierbaums Abneigung, sich auf einen bestimmten Wohnort festzulegen. Sein Studium (in Jura, Philosophie und Sinologie) absolvierte er in Zürich, München, Berlin und Leipzig. Auch danach lebte er, in den 1890er Jahren, an verschiedenen Orten – außer in München und Berlin auch in Südtirol und Wien. Erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts zog er für längere Zeit nach München, ehe er kurz vor  seinem Tod nach Dresden übersiedelte.

Literarisch hat Bierbaum seine Lust am Unterwegssein in einem Buch über eine Reise verarbeitet, die er 1902 mit seiner zweiten Ehefrau, Gemma Pruneti-Lotti, über Prag und Wien nach Italien unternommen hat. Die Empfindsame Reise in einem Automobil nimmt Bezug auf Laurence Sternes Sentimental Journey through France and Italy aus dem Jahr 1768, überträgt diese allerdings in die Moderne: Bierbaum begründete mit seinem Werk die Tradition der motorisierten Reise und der darauf beruhenden Berichte.

Zitate entnommen aus:

Otto Julius Bierbaum: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive (1897). Berlin 1909: Schuster & Loeffler; digitalisiert im Projekt Gutenberg und im Deutschen Textarchiv:

[1] Drittes Buch, erstes Kapitel

[2] Drittes Buch, zweites Kapitel

[3] Viertes Buch, zweites Kapitel

[4] Viertes Buch, viertes Kapitel

[5] Ebd.

[6] Viertes Buch, Schlusskapitel (fünftes Kapitel)

[7] Otto Julius Bierbaum: Vorwort. In: Ders.: Das Schöne Mädchen von Pao. Leipzig 1899: Schuster & Loeffler.

Gedicht aus der Frühzeit des deutschen Kabaretts auf LiteraturPlanet:

Eine Persiflage auf die bürgerliche Empfindsamkeit. Zu Erich Mühsams Gedicht Idyll.

Bilder: Edward Middleton Manigault (1887 – 1922): The Clown (1910); Columbus Museum of Art / Ohio; Otto Julius Bierbaum (links) bei einem Treffen der Gesellschaft für modernes Leben (um 1893); Wikimedia commons; Hans Thoma (1839 – 1924): Porträt von Otto Julius Bierbaum (1893); Frankfurt/Main, Städel-Museum (Wikimedia commons); Otto Julius Bierbaum mit seiner Frau auf ihrer „empfindsamen Reise im Automobil“ (Foto aus dem gleichnamigen Buch, 1902); Wikimedia commons

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