Der Sturz vom Freiheitstraum in die Schuldknechtschaft

Gerhard Klas‘ Feature über Mikrokredite in Kambodscha

Das Rothe Ohr: Radiofeature-Awards/4

Mit Mikrokrediten war einmal die Hoffnung verbunden, ärmeren Menschen den Weg in ein autonomes Leben zu ermöglichen. Heute haben sie allerdings – wie ein Feature von Gerhard Klas am Beispiel Kambodschas zeigt – oft eher die gegenteilige Wirkung.

Mikrokredite: ursprünglich eine visionäre Idee

1983 gründete Muhammad Yunus in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, die Grameen Bank. Damit verband er nicht weniger als die Vision einer neuen Ökonomie.

Unternehmenskredite sollten nicht mehr in erster Linie der Wertschöpfung, sondern der Entwicklung dienen. Yunus schwebte dafür die Idee kleinbäuerlicher oder handwerklicher Kooperativen vor, die sich gemeinsam kleinere Summen bei einer Bank leihen und von dem Geld ein kleines Unternehmen aufbauen. Die Profite sollten dann teilweise für die Tilgung des Kredits genutzt und teilweise in die Kooperative reinvestiert werden und dieser so zu zunehmender Autonomie verhelfen.

Yunus‘ Konzept der Mikrokredite verhalf unzähligen Familien und insbesondere auch vielen von Frauen geführten Kooperativen zu einer eigenständigen Wirtschafts- und Lebensweise. So entstand daraus bald eine weltweite Bewegung, die statt auf Entwicklungshilfe auf Hilfe zur Entwicklung setzte, den Menschen also durch die Vergabe passgenauer, relativ bescheidener Kredite die Deutungs- und Planungshoheit über ihr Leben zurückgeben wollte.

Mikrokredite als Rendite-Idee für die internationale Finanzwirtschaft

2006 erhielt Yunus für das von ihm maßgeblich vorangetriebene Konzept der Mikrokredite – in Ermangelung eines Ökonomienobelpreises – den Friedensnobelpreis. Dieser größtmögliche Ritterschlag für seine Idee verhalf dem Konzept endgültig zum internationalen Durchbruch.

Das Problem war nur: Durch den plötzlichen Hype um die Mikrokredite wurde auch die Finanzwirtschaft darauf verstärkt aufmerksam. Dies führte dazu, dass der Friedensnobelpreis zu einer Art Pyrrhus-Erfolg geriet. Er hatte zur Folge, dass die Vision sukzessive von eben jenem Gift der Profitorientierung affiziert wurde, dem Yunus mit dem neuen Ansatz gerade seine zersetzende Kraft hatte nehmen wollen.

In den wohlhabenden Ländern wurden Mikrokredite nun als Mittel für ein so genanntes „ethisches Investment“ angepriesen. Einer solventen Kundschaft, die ihr Geld profitabel anlegen, dabei aber ein reines Gewissen behalten wollte, wurde geraten, ihr Geld Banken zur Verfügung zu stellen, die es an Mikrokreditinstitute in den Zielländern weiterreichen würden.

In den ärmeren Ländern erschloss sich der internationalen Finanzwirtschaft durch die Idee der Mikrokredite ein gigantischer Markt. Das Konzept öffnete den Kreditinstituten die Augen dafür, dass auch „Kleinvieh Mist macht“, sich also mit einer ausreichend großen Anzahl kleinerer Kredite am Ende eine ähnlich gute Rendite erzielen lässt wie mit wenigen Großkrediten.

„Mikrokredite“ – ein irreführender Begriff

So ist heute schon allein der Begriff „Mikrokredite“ irreführend. Dies gilt in dreierlei Hinsicht:

  1. „Mikrokredite“ sind für die internationale Finanzwirtschaft heute ein „Makrogeschäft“. Die Summen, die in ärmere Länder transferiert werden, um dort mit Mikrokrediten Profite zu erzielen, bewegen sich längst im Milliardenbereich. Daraus hat sich mittlerweile eine ähnliche Eigendynamik entwickelt wie bei der Immobilienblase, die dem großen Finanzcrash im Jahr 2008 vorangegangen war: Kredite werden nicht einfach nur bei Bedarf vergeben, sondern auch gegenüber Menschen, die sich die Kredite eigentlich gar nicht leisten können, massiv beworben.
  • „Mikrokredite“ sind nicht notwendigerweise mit „Mikrozinsen“ verbunden. Im Falle Kambodschas, von dem das Feature von Gerhard Klas erzählt, liegen die Zinsen, welche die deutschen Banken bei der Weitergabe der Gelder an Mikrofinanzinstitute vor Ort verlangen, zwischen fünf und acht Prozent. Die von diesen Instituten von der Kundschaft verlangten Zinsen betragen durchschnittlich 18 Prozent (exklusive Gebühren).
  • „Mikrokredit“ ist aus einer wohlhabenden Perspektive geprägter Begriff. Für Menschen, die jeden Monat ein paar Tausender aufs Konto geschaufelt bekommen, sind ein paar Hunderter oder selbst ein einstelliger Tausenderbetrag Peanuts. Wenn man aber im Monat nur einen oder zwei Hunderter erwirtschaftet und davon womöglich noch eine Großfamilie ernähren muss, kann ein Mikrokredit rasch zu einer Makro-Bürde werden.

Mikrokredite als Einstieg in sklavenähnliche Lebensverhältnisse

Die hohe Rückzahlungsquote, mit der die Mikrofinanzinstitute gerade in Kambodscha werben, scheint dieser Problematik zunächst zu widersprechen. Sie relativiert sich jedoch, wenn man sich vor Augen führt, unter welchen Umständen die Rückzahlungen erfolgen.

Der Hauptgrund für die hohe Rückzahlungsbereitschaft ist, dass die Menschen aufgrund mangelnder Vermögenswerte regelmäßig das Wenige als Sicherheit bei den Banken angeben, was sie besitzen – etwa ihr Ackerland oder ihr Haus. Würden sie dies verlieren, wären sie obdach- und mittellos. So setzen sie alles daran, die Krediteintreiber, die oft schon bei geringem Verzug mit Pfändung drohen, zufriedenzustellen.

Um den Sturz ins Bodenlose zu verhindern, nehmen die Menschen immer neue Kredite auf, um die alten Kredite abzulösen. Am Ende landen dann viele bei Kredithaien, die mit „Mikro“ in etwa so viel zu tun haben wie ein Walfisch mit einer Krabbe. Bei ihnen handelt es sich zuweilen sogar um Mitarbeiter von Mikrofinanzinstituten, die sich so einen lukrativen Nebenverdienst verschaffen.

Spätestens an dieser Stelle gibt es aus der Abwärtsspirale kaum noch einen Ausweg. Aus dem Traum, sich mit einem Kleinkredit eine bessere Ernte zu verschaffen oder sich mit bescheidenen Investitionen eine eigene Existenz aufzubauen, wird ein Leben in Schuldknechtschaft: Die Schulden werden in Fabriken abgearbeitet, oft von ganzen Familien, ohne Aussicht auf ein Ende der entwürdigenden Lebensbedingungen.

In anderen Fällen werden Kinder – insbesondere Mädchen – von der Schule abgemeldet, um als dienstbare Geister in wohlhabenden Haushalten oder als billige Arbeitskräfte das dürftige Familieneinkommen aufzubessern. Dies ist dann der endgültige Bankrott der Vision eines besseren, autarken Lebens, das an der Wiege der Mikrokredite-Bewegung stand. Statt den Weg in die Unabhängigkeit zu ebnen, haben sie in diesen Fällen sklavenähnliche Lebensbedingungen zur Folge, welche die Betroffenen jeder Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben berauben.

Zum Feature von Gerhard Klas

Auf all diese Zusammenhänge macht das Feature von Gerhard Klas am Beispiel Kambodschas aufmerksam. Zahlen und Fakten zur Mikrokredit-Wirtschaft werden den Verheißungen all der Öko-, Sozial- und Bio-Banken gegenübergestellt, die mit den Mikrokrediten gute Gewinne erwirtschaften und ihrer Kundschaft gleichzeitig ein reines Gewissen verkaufen.

Den Kern des Features bilden die Recherchen des Autors vor Ort. Hier konfrontiert er die Aussagen der örtlichen Mikrofinanz-Platzhirsche, die ein blühendes Bild ihrer Branche zeichnen, mit dem Leid der Menschen, die in die von eben dieser Branche ausgelegte Schuldenfalle geraten sind.

Dabei wird auch deutlich, was Kreditvergabe in einem autoritären Staat bedeutet. Da auf dem Land die Besitztitel an Äckern von den Dorfvorstehern bestätigt werden müssen, kommt diesen eine Schlüsselrolle zu, die eine Netzwerkbildung zwischen lokalen Behörden, Sicherheitskräften und Kreditwirtschaft begünstigt.

So können die Betroffenen noch nicht einmal auf ihre Probleme aufmerksam machen, ohne ein unkalkulierbares Risiko für sich und ihre Familien auf sich zu nehmen. Eine entsprechende Konfrontation mit den Sicherheitsbehörden hat Klas im Rahmen seiner Recherchen in Kambodscha selbst erleben müssen.

Die Gespräche mit den von den Schulden Erdrückten gehen so gleich doppelt unter die Haut. Die Scham, aber auch die Angst vor den Behörden sind den Interviewten deutlich anzumerken.

Hilfe für die Betroffenen?

Dies wirft auch die Frage auf, ob und inwieweit jene, die trotz allem zu einer Mitarbeit an dem Feature bereit waren, hierfür entlohnt worden sind. Natürlich ist es die Hauptaufgabe eines investigativen Journalismus, auf Missstände aufmerksam zu machen und einen Bewusstwerdungsprozess in Gang zu setzen, an dessen Ende eine andere Herangehensweise an die beschriebenen Zustände steht. Dies schließt aber nicht aus, dass jenen, die sich vor Ort im Interesse einer Änderung der Verhältnisse exponieren, konkret geholfen wird – sei es durch eine Entlohnung für ihre Mitarbeit oder durch einen Spendenaufruf.

Gemessen am gesamten Ausmaß der Problematik mag das nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein sein. Für die Einzelnen, denen die Hilfe zugutekäme, wäre es aber der entscheidende Rettungsring, der sie vor dem Ertrinken in ihren Schulden bewahren würde.

Wer das Feature anhört, müsste sich bei einer entsprechenden Spendenmöglichkeit zudem nicht mehr als Voyeur fühlen, als schauernder Konsument fremden Leides, sondern könnte seine Empörung in unmittelbare Aktion übertragen. Dies wäre zugleich eine Art Wiedergutmachung für die Usurpation einer befreienden Idee durch die westliche Finanzwirtschaft.

Das Mikrofon könnte so zu einer Brücke für Mikro-Spenden werden, die in der Mikro-Welt der Betroffenen eine Makro-Wirkung entfalten könnten.

Link zum Feature:

In der Schuldenfalle – Ruin durch Mikrokredite in Kambodscha; Deutschlandfunk und Westdeutscher Rundfunk 2023; Erstsendung: 30. Mai 2023

Autor: Gerhard Klas

Regie: Matthias Kapohl

Redaktion: Christiane Habermalz

Sprecherinnen und Sprecher: Sigrid Burkholder, Gerhard Klas, Judith Jacob, Sebastian Schlemmer, David Vormweg, Bruno Winzen

Ton und Technik: Oliver Dannert und Gunther Rose

Infos zu Gerhard Klas finden sich u.a. auf recherche-international.de; mit Foto auf assoziation-a.de.

Bilder: Sasin Tipchai: Bauer mit Büffel in Kambodscha (Pixabay); Marco Torrazzina: Frau bei der Lotusblumenernte in Kambodscha (Pixabay)

2 Kommentare

  1. Vielen herzlichen Dank für diese mehr als spannenden Zusammenhänge und den Hinweis auf das hervorragende , gut recherchierte Feature. Mir war dies alles überhaupt nicht klar. Es zeigt, wie im Kapitalismus eine eigentlich gute Idee im Rahmen des Ziels der ständigen Gewinnmaximierung pervertiert wird. Ich glaube, dass ganz ähnlich Prozesse im Rahmen des Klimaschutzes in Zusammenhang mit Entwicklungshilfe und Strukturförderung ablaufen. Leider wird den meisten „Salonlinken“ reichen, dass etwas als „gut“, „sozial“ oder „ökologisch“ gelabelt wird. Was das für die Betroffenen vor Ort bedeutet ist ihnen in ihrer Wohlstandsblase eigentlich ziemlich gleichgültig. Umso wichtiger sind solche Beiträge!

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