Israel – ein modernes Trauerspiel

Zur Gewaltspirale im Nahen Osten

Europa und speziell Deutschland tragen aufgrund ihrer Geschichte eine Mitverantwortung für den Nahost-Konflikt. Dieser Verantwortung kann man jedoch ohne eine Berücksichtigung der komplexen Hintergründe des Konflikts nicht gerecht werden.

1939: Britische Schranken für jüdischen Rückkehrtraum

Einreisebegrenzungen und Verfolgungen in anderen Ländern

Sehnsuchtsziel „Palästina“

Exodus 1947: Britanniens moralischer Bankrott als Geburtshilfe für Israel

Über die Schwierigkeit, als Deutscher über Israel zu reden

Human Rights Watch: Kriegsverbrechen auf beiden Seiten

Gründe für den aktuellen Gewaltausbruch

Ein psychoanalytischer Blick auf das israelische Militär

Philosemitismus als verdeckter Antisemitismus

Wie Deutschland seiner historischen Verantwortung gerecht werden kann

Nachweise

1939: Britische Schranken für jüdischen Rückkehrtraum

In gewisser Weise verdankt sich die Existenz des Staates Israel dem Holocaust. Dies gilt allerdings nicht in der unmittelbaren Weise, wie sie dieser Satz suggeriert.

Keineswegs hat die nationalsozialistische Verfolgung von allem, was auch nur entfernt nach Judentum klang, der Weltgemeinschaft zu der Einsicht verholfen, dass das jüdische Volk nicht nur ein Existenz-, sondern auch ein Selbstbestimmungsrecht hat und dass es zur Ausübung dieses Rechts ein eigenes Territorium zugesprochen bekommen muss. Anfangs war sogar eher das Gegenteil der Fall.

Nach dem Ersten Weltkrieg geriet Palästina – das damals außer dem heutigen Staatsgebiet Israels auch den Gazastreifen und das Westjordanland umfasste – aus osmanischer unter britische Oberhoheit. Dies gab der seit den 1880er Jahren an Bedeutung gewinnenden zionistischen Bewegung, die für die Rückkehr des in der Diaspora lebenden jüdischen Volkes in seine angestammte biblische Heimat eintrat, neuen Auftrieb [1].

Großbritannien stand diesem Rückkehrtraum zunächst durchaus positiv gegenüber. Gerade dann, als Palästina zu einem wichtigen Zufluchtsort für Verfolgte des Nazi-Regimes wurde, änderte das British Empire jedoch seine Position. Angesichts des wachsenden Zustroms jüdischer Flüchtlinge nach Palästina wurde 1939 eine Beschränkung des jährlichen Zuzugs auf 15.000 Personen jüdischer Abstammung verkündet, was zudem auf einen Zeitraum von fünf Jahren begrenzt werden sollte. Danach sollte es keine weiteren Einreiseerlaubnisse geben [2].

Einreisebegrenzungen und Verfolgungen in anderen Ländern

Auch in anderen Ländern führte die nationalsozialistische Todesmaschinerie mitnichten dazu, dass jüdische Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen wurden. Die Schweizer Regierung etwa verfügte im Sommer 1942, dass Menschen gerade aus jenen Gründen an der Grenze abgewiesen werden sollten, aus denen sie in Nazi-Deutschland in die Todeslager geschickt wurden – nämlich im Falle einer Verfolgung aus rassischen Gründen [3]. Aufgenommen werden sollten nur noch politisch Verfolgte – ein lehrreiches Beispiel dafür, dass die Beschränkung des Asylrechts auf politische Verfolgung nicht ausreicht, um Schutzbedürftigkeit zu definieren.

In Osteuropa war die Lage für jüdische Menschen nicht weniger prekär. Viele waren nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen in die Sowjetunion geflohen. Angesichts des auch dort virulenten Antisemitismus [4] gab es jedoch nach Kriegsende eine massive Rückkehrwelle. Aufgrund der im Hitler-Stalin-Pakt beschlossenen Westverschiebung Polens waren jüdische Häuser und Wohnungen jedoch mittlerweile oft in den Besitz polnischer Familien übergegangen.

Zudem gab es auch in Polen eine verbreitete antisemitische Stimmung. Schon während des Zweiten Weltkriegs hatten sich einzelne Polen immer wieder aktiv an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung beteiligt. Dies gilt nicht nur für die „Blaue Polizei“, eine etwa 10.000 Mann starke polnische Hilfstruppe der Nationalsozialisten. Auch unter der sonstigen Bevölkerung hat es nicht wenige Fälle antisemitischer Übergriffe gegeben [5]. In der im Nordosten Polens gelegenen Kleinstadt Jedwabne ist es dabei 1941 zu einem regelrechten Pogrom gekommen, bei dem eine Scheune mit tausend darin eingesperrten jüdischen Menschen in Brand gesteckt wurde [6].

Ein weiteres Massaker ereignete sich ein Jahr nach Kriegsende im südpolnischen Kielce. In diesem Fall wurden über 40 wahllos herausgegriffene jüdische Menschen auf teils sadistische Weise getötet, nachdem sich das Gerücht verbreitet hatte, ein Junge sei von „den Juden“ entführt worden [7].

Sehnsuchtsziel „Pälästina“

Angesichts der andauernden Verfolgung hatten viele jüdische Flüchtlinge nach 1945 keine andere Wahl, als ausgerechnet in das Land ihrer Mörder weiterzureisen – nach Deutschland. 200.000 jüdische Personen suchten dort nach Kriegsende Schutz bei den Besatzungstruppen. In Deutschland landeten sie allerdings oft zunächst in Lagern für „Displaced Persons“, wo sie zuweilen mit ihren früheren Verfolgern zusammenleben mussten [8].

Die Folge war, dass das Sehnsuchtsziel „Palästina“ eine immer größere Anziehungskraft ausübte und sich die jüdische Migration nach Palästina massiv verstärkte. Da dies legal kaum noch möglich war, organisierte die Hagana – eine paramilitärische Organisation zur Förderung der Errichtung eines jüdischen Staates auf dem Boden Palästinas – mit Hilfe ausrangierter Dampfschiffe eine Einwanderung an den Behörden vorbei.

Dies stieß auf den entschiedenen Widerstand Großbritanniens, das auch nach Kriegsende noch die Oberhoheit über Palästina innehatte. Von den über 60 von der Hagana beschafften Schiffen, die sich auf den Weg nach Palästina machten, erreichten lediglich fünf ihr Ziel. Die übrigen wurden von der britischen Marine abgefangen und zumeist nach Zypern, damals noch ein Teil des British Empire, umgeleitet. Dort unterhielt die britische Regierung Flüchtlingslager, in denen zwischen 1946 und 1949 53.000 jüdische Personen interniert wurden [9].

Exodus 1947: Britanniens moralischer Bankrott als Geburtshilfe für Israel

Die Situation eskalierte im Sommer 1947, als das Flüchtlingsschiff Exodus 1947 von Frankreich aus in Richtung Palästina in See stach. Nachdem die britische Regierung vergeblich versucht hatte, die Ausfahrt des Schiffes zu verhindern, ließ sie dieses auf hoher See von Marinebooten einkesseln. Es kam zu einem Kampf, bei dem es Verletzte und sogar drei Tote gab [10].

Die britische Marine geleitete das Schiff daraufhin nach Haifa, wo die Verletzten in Krankenhäusern versorgt wurden. Die übrigen Passagiere mussten auf andere Schiffe umsteigen und wurden nach Frankreich zurückgebracht. Als sie sich weigerten, dort von Bord zu gehen, ordnete die britische Regierung den Weitertransport nach Deutschland an.

In Hamburg wurden die Flüchtlinge dann gewaltsam von Bord getrieben, in vergitterte Züge gesperrt und in ein bei Lübeck befindliches Lager transportiert. Diese zynischen Anleihen bei der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis waren der entscheidende Anstoß dafür, dass die Weltgemeinschaft ihre zögerliche Haltung aufgab und dem jüdischen Volk endgültig das Recht auf einen eigenen Staat zugestand.

Kurz nach der moralischen Bankrotterklärung beim Umgang mit der Exodus 1947 erklärte Großbritannien seinen Rückzug aus Palästina. Im November desselben Jahres verabschiedete die UNO einen schon seit Längerem diskutierten Teilungsplan, der die Gründung zweier durch eine Wirtschaftsunion verbundener Staaten – eines jüdischen und eines arabischen – auf dem Gebiet Palästinas vorsah.

Über die Schwierigkeit, als Deutscher über Israel zu reden

Die Ausgrenzung und Verfolgung, gewalttätigen Übergriffe und Pogrome, derer sich manche europäische Länder – in erster Linie natürlich Deutschland – vor, während und teils auch noch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber Menschen mit jüdischen Wurzeln schuldig gemacht haben, erweisen sich bis heute als schwere Hypothek für das Verhältnis zu Israel. Es ist ein bisschen wie bei den Resozialisierungsmaßnahmen für Mörder: Auch bei der äußersten Versöhnungsbereitschaft von Tätern und Angehörigen der Opfer bleibt doch immer eine Distanz der Scham bestehen, die sich als unüberbrückbar erweist.

Ich muss gestehen, dass es mir in diesem Punkt nicht anders ergeht. Die Worte „jüdisch“, „Jude“, „jüdische Kultur“ oder „jüdisches Volk“ scheinen mir, von einem Deutschen ausgesprochen, stets von einem dunklen Schatten umweht – eben von jenem Nachhall der Vergangenheit, der nun einmal ein Teil meiner Geschichte und damit auch meines Lebens ist. Damit besteht auch die Gefahr, dass Ereignisse, auf die sich die verwendeten Worte beziehen, in einem falschen Licht erscheinen.

Zur Beurteilung der aktuellen Ereignisse im Gazastreifen beziehe ich mich deshalb hier auf die Analysen von Human Rights Watch – einer Organisation also, die einer parteiischen Bewertung der Vorfälle unverdächtig ist. Konkret zitiere ich im Folgenden Aussagen von Omar Shakir, der bei Human Rights Watch als Regionalleiter für Israel, das Westjordanland und den Gazastreifen zuständig ist [11].

Human Rights Watch: Kriegsverbrechen auf beiden Seiten

Shakir lässt keinen Zweifel daran, dass sich die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel der Begehung von Kriegsverbrechen schuldig gemacht hat. Dies beziehe sich sowohl auf die vorsätzliche Tötung von Zivilpersonen als auch auf die Geiselnahmen und „das wahllose Abfeuern von Raketen“.

Shakir gesteht Israel deshalb auch durchaus ein Selbstverteidigungsrecht zu. Dieses müsse jedoch die Regeln des humanitären Völkerrechts respektieren:

„Das humanitäre Völkerrecht ist nicht zwischen Kriegsparteien verhandelbar. Gräueltaten der einen Seite rechtfertigen keine Gräueltaten der anderen Seite.“

Auf dieser Grundlage kommt Shakir zu der Einschätzung, dass auch die israelische Regierung bei ihrer Reaktion auf den Angriff der Hamas Kriegsverbrechen begangen hat:

„So hat sie dafür gesorgt, dass dort die gesamte Zivilbevölkerung von der Versorgung mit Strom, Wasser, Treibstoff, Lebensmitteln und Medikamenten abgeschnitten ist. Die Versorgung zu blockieren, ist ein Kriegsverbrechen. Eine ganze Bevölkerung für die Taten Einzelner oder einer Gruppe zu bestrafen, ist ein Kriegsverbrechen. Das Aushungern als Kriegswaffe einzusetzen, ist ein Kriegsverbrechen.“

Für Vorwürfe Israels, wonach die Hamas Kranke in Hospitälern als menschliche Schutzschilde missbrauche, gibt es laut Shakir keine hinreichenden Belege. Unabhängig davon würden Krankenhäuser aber nach den Regeln des humanitären Völkerrechts einen besonderen Schutzstatus genießen. Deshalb wäre ein entsprechendes Vorgehen der Hamas zwar – sollte es sich bestätigen – ebenfalls ein Kriegsverbrechen. Es gäbe Israel aber „keinen Freibrief, Krankenhäuser und andere zivile Objekte als freie Feuerzonen auszuweisen“.

Gründe für den aktuellen Gewaltausbruch

Nun erklärt die Tatsache, dass Kriegsverbrechen begangen wurden, allerdings noch nicht, warum sie begangen wurden. Schließlich greift ja niemand aus einer puren Laune heraus zum Mittel äußerster Gewalt.

Bei der Hamas scheint die Sache klar zu sein. Sie lehnt den Staat Israel ab und tut alles, um dem Land zu schaden. Warum aber hat die Hamas gerade jetzt eine Gewaltwelle losgetreten – und noch dazu eine, von der sie sich keinerlei langfristige Vorteile versprechen konnte? Eine Anschlagsserie, bei der sie von einem harten israelischen Gegenschlag ausgehen musste, dem die Menschen im Gazastreifen schutzlos ausgeliefert wären?

Hier führt die Spur in den Iran. Das Mullah-Regime hat schon seit Längerem mit Argwohn die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien, dem Gegenspieler des Iran beim Kampf um die Vorherrschaft in der Region, beobachtet. Nachdem sich sogar Anzeichen für Friedensverhandlungen zwischen den beiden Erzfeinden des Landes verdichteten, befürchtete man im Iran offenbar eine Schwächung der eigenen Position. Um Friedensverhandlungen mit Israel für Saudi-Arabien moralisch unmöglich zu machen, wurde daher die Hamas in Wort und Tat – sprich: mit Waffenlieferungen – in einem Angriff auf Israel bestärkt.

Der Iran konnte sich dabei wiederum der Rückendeckung Russlands sicher sein, das derzeit Waffen – insbesondere Drohnen – aus dem Iran bezieht. Hinzu kommt, dass der Kreml von einer Verlagerung der internationalen Aufmerksamkeit vom eigenen Angriffskrieg gegen die Ukraine auf den Nahost-Konflikt nur profitieren kann. Derzeit wird sogar über eine Verlegung russischer Waffensysteme aus Syrien in den libanesischen Herrschaftsbereich der Hisbollah spekuliert – was Israel in einen Zweifrontenkrieg zwingen könnte.

Ein psychoanalytischer Blick auf das israelische Militär

Was die Bereitschaft der israelischen Armee anbelangt, Terrorangriffe ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu beantworten, so hilft vielleicht ein Blick auf die jüdische Geschichte. In den Jahrhunderten der Diaspora mussten jüdische Menschen immer wieder die Erfahrung machen, dass ihr Bemühen um unauffällig-defensives Verhalten nicht belohnt wurde. Stattdessen kam es immer wieder zu pogromartigen Übergriffen, bei denen die Täter meist straffrei ausgingen und den Überfallenen mit absurden Anschuldigungen – Brunnenvergiftung, Kindesentführung, Hostienraub … – die Schuld an den  Massakern gegeben wurde.

So ließe sich die heutige Bereitschaft Israels zu einem auch unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt als eine Art Vorwärtsstrategie verstehen. Indem man den Feinden zeigt, über welches Zerstörungspotenzial man verfügt, möchte man sie von Übergriffen auf das eigene Land abhalten.

Aus psychologischer Sicht ließe sich dieses Verhalten vielleicht als eine Art Introjektion des Angstobjekts deuten. Dabei passen die Betreffenden sich an das Objekt der Bedrohung bzw. an die sie bedrohenden Personen und deren Denk- und Handlungsmuster an, um Herr über die Bedrohung zu werden. Sie internalisieren also die Bedrohung und üben sie selbst gegenüber anderen aus, damit sie ihr selbst nicht mehr schutzlos ausgeliefert sind.

Philosemitismus als verdeckter Antisemitismus

Insofern das Verhalten der israelischen Armee auf die in die DNA dieses Staates eingeschriebenen Erfahrungen der Bedrohung, Verfolgung und Auslöschung zurückzuführen ist, kommt den europäischen Ländern – allen voran natürlich Deutschland – in der Tat eine historische Verantwortung für den so genannten „Nahost-Konflikt“ zu. Dieser Verantwortung kann man aber nicht gerecht werden, indem man sich reflexartig auf die Seite Israels stellt. Vor allem wird ein solches Verhalten auch den Israelis selbst nicht gerecht.

In Israel gibt es heute eine sehr vielfältige Gesellschaft. Zwar bemüht sich die ultraorthodoxe Minderheit seit Jahren – und in der aktuellen Regierung mit besonderem Eifer –, den Staat in eine jüdische Variante der iranischen Theokratie zu verwandeln. Dagegen wehrt sich jedoch eine breite säkulare oder am Reformjudentum orientierte Bevölkerungsschicht, die sich von den Vorstellungen der Ultraorthodoxen nicht vorschreiben lassen möchte, wie sie ihr Leben zu führen hat.

Ebenso gibt es innerhalb der israelischen Armee Stimmen, die sich für einen stärkeren Schutz der Zivilbevölkerung aussprechen. Am stärksten zum Ausdruck kommt dies in der Organisation Breaking the Silence, in der Mitglieder des Militärs aus eigener Perspektive fragwürdige Praktiken der Armee dokumentieren und sich für Verständigung mit der palästinensischen sowie allgemein der arabischen Bevölkerung einsetzen.

Diese Komplexität der israelischen Gesellschaft und des modernen jüdischen Lebens zu missachten, ist im Grunde eine versteckte Form von Antisemitismus. Er besteht darin, dass jüdische Menschen weiterhin in erster Linie als Opfer gesehen werden. Was sich gegenüber früher geändert hat, ist dabei lediglich die Einstellung den Opfern gegenüber. Wurden sie früher als Freiwild für Gewaltanwendung gesehen, so wird ihnen heute aus historisch gewachsenen Gewissensbissen mit Mitleid begegnet. Da jedoch der Mensch hinter dem Opfer nicht gesehen wird, kann das Pendel morgen auch wieder in die andere Richtung umschlagen.

Wie Deutschland seiner historischen Verantwortung gerecht werden kann

Sich der historischen Verantwortung für das, was in, durch und gegenüber Israel geschieht, zu stellen, müsste für europäische Länder – in erster Linie natürlich für Deutschland – vor diesem Hintergrund vor allem zweierlei bedeuten.

Zum einen müsste ein lebendiger Dialog darüber aufgenommen werden, was Jüdischsein heute bedeutet und was jüdische Menschen in Israel von ihrem Staat erhoffen und erwarten. Zum anderen bedingt die Tatsache, dass das Vorgehen der israelischen Armee letztlich eine Folge der in der Diaspora erlebten Gewaltexzesse ist, gerade eine besondere Verantwortung für jene, die heute unter dieser Gewalt leiden, also die Zivilbevölkerung im Gazastreifen und im Westjordanland, speziell an den Orten des israelischen Siedlungsbaus.

Derzeit sind diese Menschen gleich in mehrfacher Hinsicht Opfer einer Politik, die ohne ihr Zutun ausgeführt wird. Sie sind Opfer der Hamas und anderer Gruppierungen, die ihre Ziele ohne Rücksicht auf das Leben der Zivilbevölkerung in Israel und im eigenen Machtbereich verfolgen. Sie sind Opfer der israelischen Armee, die bei ihren Einsätzen den Schutz der Zivilbevölkerung kleinschreibt. Und sie sind Opfer einer internationalen Gemeinschaft, die vergangene Gewaltexzesse gegenüber jüdischen Menschen dadurch zu sühnen versucht, dass sie die Augen vor israelischer Gewalt gegenüber der arabischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel selbst verschließt.

Nachweise

[1]  Vgl. Brenner, Michael: Eine Bewegung schafft sich ihren Staat: der Zionismus. In: Informationen zur politischen Bildung, 28. Mai 2018.

[2]  Vgl. Fuhrer, Armin: Chamberlain riegelte Palästina ab. Neues Dokument zeigt, wie England Juden an der Flucht vor Hitler hinderte. In: Focus Online, 9. März 2020.

[3]  Vgl. Langels, Otto: Vor 75 Jahren: Schweiz schließt Grenzen für Verfolgte des Nationalsozialismus. Deutschlandfunk (Sendung Kalenderblatt), 13. August 2017.

[4]  Antisemitische Pogrome hatte es bereits im Zarenreich gegeben. In der Sowjetunion nahm die Verfolgung von Menschen mit jüdischen Wurzeln nach 1945 zu, weil Stalin ihnen aufgrund der zionistischen Bewegung eine mangelnde Loyalität zum sowjetischen Staat unterstellte. In der Tradition jahrhundertealter antisemitischer Klischees konstruierte er Anschuldigungen, wonach jüdische Ärzte angeblich sowjetisches Führungspersonal vergiften wollten, und leitete eine antijüdische Verfolgungswelle ein (vgl. Rosbach, Jens: Antisemitismus in der UdSSR. Was plante Stalin mit den sowjetischen Juden? Deutschlandfunk Kultur, Podcast Aus der jüdischen Welt, 29. Dezember 2017; zu antisemitischen Ausschreitungen im Zarenreich: Kirmse, Stefan B.: Antisemitismus im Zarenreich. Von der Anfeindung zum Pogrom. In: Der Tagesspiegel, 15. Dezember 2020).

[5]  Vgl.Caus, Jessica: So halfen polnische Bauern beim Judenmord. In: Die Welt, 9. Juni 2015;

Föhrding, Hans-Peter: „Polen hat eine lange Antisemitismus-Tradi­tion.“ Interview mit Reuven „Robbi“ Waks, Historiker aus Tel Aviv, dessen Eltern nach 1945 wegen des fortbestehenden Antisemitis­mus aus Lodz geflohen waren. In: Einestages, Spiegel Online, 2. Feb­ruar 2018;

Kellermann, Florian: Beteiligung an der „Judenvernichtung“: Erneute Debatte um die Rolle Polens im Holocaust. Deutschlandfunk Kul­tur, 22. April 2018.

[6]  Vgl. Malzahn, Claus Christian: Das Schweigen der Bauern. In: Der Spiegel 10/2001 (5. März 2001) [über das Massaker von Jedwabne].

[7]  Vgl. Der Spiegel 27/1996: „Ganz langsam gesteinigt“. 1. Juli 1996 [über das Massaker von Kielce; kein Autor angegeben].

[8]  Vgl. hierzu das Online-Portal der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem: Jüdisches Leben in den DP-Lagern 1945 – 1956: „Trotz alledem lebe ich“; yadvashem.org.

[9]  Vgl. Eschrich, Kerstin: Gestoppter Exodus. Die Geschichte der auf Zypern internierten Holocaustopfer; jungle.world, 15. Oktober 2009.

[10] Das Schicksal der Exodus 1947 wird anschaulich nachgezeichnet in: Berger, Alois: „Exodus 1947“: Ein Flüchtlingsschiff und die Staatsgründung Israels. Deutschlandfunk (Sendung Hintergrund), 19. August 2022.

[11] Human Rights Watch: Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Susanne El Khafif im Gespräch mit Omar Shakir von Human Rights Watch. Deutschlandfunk (Sendung Eine Welt), 18. November 2023.

Bild: MathKnight / Zachi Evenor: Gebet an der Klagemauer (Religious Jews pray in the Western Wall (Wailing Wall / HaKotel HaMaaravi); November 2010 (Wikimedia commons)

2 Kommentare

  1. „Kriegsverbrechen auf beiden Seiten“ – das soll Deutschland laut aussprechen und die Verbrechen auf beiden Seiten verurteilen. Vgl. https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2023/11/01/wir-werden-systematisch-desinformiert/
    Dass es Deutschland zusteht, sich darüber hinaus mit einem „lebendigen Dialog“ in das, was sich in Israel ereignet, einzumischen, um das dortige „jüdische Leben“, d.h. die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse, zu beurteilen, meine ich nicht. Das anmaßende und besserwisserische Deutschland ist kann weder aufgrund seiner Geschichte noch aufgrund seiner Gegenwart eine moralische Instanz oder ein ernstzunehmender Dialogpartner zu einem solchen Thema sein.

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  2. Hallo Rotherbaron,

    danke für den Artikel, aber einiges darin, darf man gern auch anders sehen, finde ich. Die Leutchen von der Hamas können nicht so doof sein, um nicht zu wissen, sich ausmalen zu können, was folgen wird, wenn sie tun, was sie taten und noch tun. Dass der Iran dabei eine Rolle gespielt haben könnte, so what? Es scheint mir vielmehr die Einsicht über das zu sein, was seit Jahren in Palästina abgeht, also darüber, dass das ‚Spiel‘ eh verloren ist und man daher – in Allahs Namen – der Welt den Märthyrer gibt, und endlich auch mal proaktiv, sozusagen, einen Haufen derer mit in den Tod zieht, die Glauben REINE Opfer zu sein. Sind sie nämlich nicht, zumindest nicht nach Ansicht mancher in dieser Welt, die die Palästinenser zu verstehen glauben oder diesen Palästinensern nahestehen.

    Seit Jahrzehnten werden Palästinenser getötet in Palästina und zwar von dem Teil der Bevölkerung Palästinas, der unrechtmäßig Palästina besetzt hält, aus der Sicht vieler. Denn, es wurde den Palästinensern irgendwann mal versprochen oder in Aussicht gestellt, ebenfalls einen eigenen Staat haben zu können, wenn Dies und Das und Jenes blabla – den aber nur die anderen haben, die auch noch von Mächten wie den USA oder Deutschland etc. seit Jahrzehnten für ihre Unrechtspolitik gegenüber Palästinensern Art entlohnt, ja, verwöhnt werden. Insofern ist es für Anhänger dieser eben geäußerten Sichtweise gewiss verständlich, dass ein Märthyrertod in Kauf genommen werden muss – zumal die Weltgemeinschaft sich offenbar eh dazu entschieden hat, dem Unrecht offenbar für alle Ewigkeit oder zumindest für unabsehbare Zeiträume den Vorrang zu geben, siehe derzeit, beispielsweise mal wieder, massenweise Waffenlieferungen aus Deutschland an jene etc.

    Es ist ja inzwischen so weit gereift, sagen die Protagonisten obiger Auffassung des Weiteren, dass man für das Äußern genau solch einer Weltsicht neuerdings sogar in den Knast (siehe Deutschland) geht oder aber sich nicht wundern soll dürfen, wenn einem irgendwelche Geheimdienste auf die Fersen gehetzt werden und geballt unangenehm werden usw.

    Ja, diese Kreise, die scheinen den Märthyrer-Ausweg als einen ehrenwerten Ausweg sehen zu wollen, zu sehen, sich ausgeguckt zu haben.

    Mr Rotherbaron, was ich persönlich zu dieser Angelegenheit sage, und dies bereits seit Jahren: das Palästina-Ding ist derart böse, verlogen, unglaublich, dass seit Jahren genau dieses Thema, welches ja jede Woche mindestens 1 Mal in den Medien, irgendwo, Erwähnung findet, weggedrückt werden muss, von mir also eher konsequent ausgeblendet wird und wurde. Jetzt habe ich mich nach Jahren mal dazu ‚öffentlich‘ geäußert, nämlich hier, und dies eben weil diese Märthyrer-Linie palästinensischer Akteure endlich und scheinbar klar hier erkannt worden ist, und all dem somit, hört sich pathetisch an, mein Segen hiermit gegeben worden sein soll auf diese Weise – hoffe, mich zu täuschen, wie so oft – aber das ist dann auch egal, irgendwie, eigentlich.

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