Musikalische Winterreise

Der Winter: Untergang oder Utopie?

Der Winter, den wir heute in unseren Weihnachtsliedern als „winter wonderland“ verkitschen, war früher ein Synonym für Naturkatastrophen und Hungersnöte. Gleichzeitig war er aber schon immer – früher noch stärker als heute – eine Zeit der Besinnung und des Zu-sich-selbst-Kommens. Konnotativ bewegt er sich damit zwischen den Extrempolen von Existenzangst und innerer Ruhe, Vereinzelung und stärkerem Zusammenrücken, Resignation und Utopie. Dies spiegelt sich auch in der musikalischen Auseinandersetzung mit dem Winter wider. Dazu gibt es an dieser Stelle ab sofort eine vierteilige Wintermeditation mit Liedern aus Russland, Italien, Frankreich, Deutschland, Kalifornien, Schweden und Island. Heute Teil 1:

  1. Der Winter als existenzielle Bedrohung

Rein biologisch betrachtet, ist der Winter das Andere des Lebens. Er steht für eine Welt, in der selbst das Sterben vorbei ist. Nichts wächst, nichts verfällt, alles ist erstarrt. Dies findet seinen Niederschlag in Ausdrücken wie „Regionen des ewigen Eises“ oder, metaphorisch gesprochen, dem „ewigen Winter“, der sich über eine Seele gelegt hat.

Am naheliegendsten erscheint demnach eine Thematisierung des Winters, in der dieser mit einer lebensfeindlichen Umwelt assoziiert wird. Genau dies ist auch der Grundton in den meisten älteren Volksliedern, wie etwa in Ach, bittrer Winter oder Es ist ein Schnee gefallen. Dementsprechend wird in einem Wintergedicht Walthers von der Vogelweide (Diu werlt was gelf, rôt unde blâ), zu dem es eine schöne Vertonung der Gruppe Qntal (unter dem Titel Winter) gibt, der Schnee nur von den „Toren“ bestaunt, während die „arme[n] Leute“ auf den Einbruch des Winters mit Wehklagen reagieren.

Hierin spiegelt sich die Tatsache wider, dass der Winter für die Menschen früherer Jahrhunderte eine existenzielle Bedrohung darstellen konnte. Insbesondere auf dem Land, wo die Mehrzahl der Menschen lebte, wusste man nie, ob die Lebensmittelvorräte bis zum Frühling reichen und die ärmlichen Katen den Schneemassen standhalten würden. Die Verklärung der kalten Jahreszeit zu einem „winter wonderland“ ist eben nur jenen möglich, die es sich leisten können, sich vor der Tod bringenden Wirklichkeit des Winters zu schützen.

Eben dieser Aspekt des Winters – die Brutalität, mit der er die sozialen Unterschiede spürbar macht – wird in Björks Lied von der „Jólakötturinn“ thematisiert. Es handelt sich dabei um die Vertonung einer isländischen Sage, der zufolge in der Weihnachtszeit eine Raubkatze um die Häuser schleicht und jene Menschen – insbesondere Kinder – anfällt, die keine neuen Kleider bekommen haben. Deshalb bemühen sich die Frauen, jedem wenigstens eine neue Socke zu nähen.

Das Lied kann folglich zunächst allgemein auf die verzweifelte Lage bezogen werden, die sozialer Ausschluss gerade in der kalten Jahreszeit mit sich bringt. Insbesondere ist dabei wohl an die Situation von Obdachlosen zu denken. Angesichts der Tatsache, dass das Raubtier auch durch einen symbolischen Akt – das Geschenk eines einzelnen Strumpfes, der de facto gar keinen Schutz vor der Kälte bietet – in Schach gehalten werden kann, könnte man die „Unbehaustheit“ hier aber auch in einem existenziellen Sinn deuten. Sie ergäbe sich dann aus dem völligen Verlust sozialer Bindungen, aus dem Zerreißen des letzten dünnen Bandes, das einen noch mit der Gemeinschaft verknüpft. Das winterliche Raubtier wäre aus dieser Perspektive kein Bild für konkrete Kälte und materielle Not, sondern eine Metapher für einen Zustand totaler Isolation, die einen von innen heraus „auffrisst“.

Im übertragenen Sinn lässt sich die lebensfeindliche Welt des Winters auch auf die sozialen und ökologischen Zerstörungen beziehen, die der Mensch zu verantworten hat. Diesen Weg beschreitet die schwedische Singer-Songwriterin Jennie Abrahamson in ihrem Song Snowstorm. Das Lied verdeutlicht, wie die Entfremdung von der Natur (exemplifiziert u.a. in der Achtlosigkeit gegenüber Insekten und ihrer Bedeutung für den Kreislauf des Lebens) Umweltzerstörungen bewirkt, die ihrerseits wieder eine verstärkte Entfremdung von der Natur zur Folge haben und so einen Teufelskreis in Gang setzen, der ohne Innehalten in den Untergang der Zivilisation zu münden droht. Eben dieses Szenario evoziert der Song durch das Bild des Schneesturms, der die Welt der Menschen „hinwegfegt“ bzw. sie „auslöscht“, während sie vom Fenster aus tatenlos zusehen oder sich in ihren warmen Betten verkriechen.

Lieder mit Übersetzungen:

Qntal / Walther von der Vogelweide: Winter 

aus: Qntal V: Silver Swan (2006);
Lied umfasst die ersten drei Gedichtstrophen

Text (mittelhochdeutsches Original)

Übertragung ins Neuhochdeutsche*

Hell leuchtete die Welt, gelb, rot und blau,
der Wald trug ein grünes Kleid, wie vieles andere auch,
die kleinen Vögel sangen ihre Lieder.
Doch nun schreit nur die Nebelkrähe.
Hat nicht auch die Farbe sich verändert? Aber ja!
Die Welt ist bleich geworden, bleich und grau,
und malt uns Sorgenfalten auf die Stirn.

Ich saß auf einem grünen Hügel,
da sprossen Blumen und Klee
zwischen mir und einem See.
Das war so herrlich anzusehn.
Wo wir uns Blumenkränze gebunden haben,
da ist nun alles von Raureif und Schnee überzogen,
den kleinen Vögelchen zum Leid.

Die Toren rufen: „Lass es doch schneien!“
Arme Leute aber: „O weh! O weh!“
So drückt auch mich eine bleierne Schwermut nieder,
der Winterkummer lastet schwer auf mir.
Doch wie auch immer diese und andere Sorgen aussehen,
ich würde ihrer rasch ledig werden,
wenn es nur endlich wieder Sommer wär‘,

Um nicht länger so leben zu müssen,
wollt‘ ich schon rohe Krebse essen.
Sommer, mach uns wieder froh!
Du schmückst Wiese und Wald.
Dort spielt‘ ich mit den Blumen,
mein Herz schwebte hoch in der Sonne –
nun hat’s der Winter ins Stroh gejagt.

Vom vielen Liegen bin ich wund wie Esau**,
mein glattes Haar ist ganz struppig geworden.
Süßer Sommer, wo bist du nur hin?
Wie gerne säh‘ ich bei der Feldarbeit dir zu!
Wenn diese Schwermut mich noch lange
in ihren Fängen hält, möchte ich lieber
Mönch sein in Doberlug.***

*    Die besondere Musikalität des Gedichts drückt sich u.a. darin aus, dass die Reime jeder Strophe im mittelhochdeutschen Original jeweils auf einen anderen Vokal enden. Eine analoge Übertragung ins Neuhochdeutsche droht allerdings die poetische Kraft des Textes zu schmälern. Ich habe mich hierbei daher stärker auf die semantische Ebene konzentriert.
**     Esau: Esau bedeutet wörtlich „der Behaarte, der Struppige“. Laut Altem Testament war sein ganzer Leib „rötlich“ und wie ein einziger „härener Mantel“ – was gut zu der von Walther beschriebenen winterlichen Verwahrlosung passt (vgl. bibelkommentare.de)
***   Doberlug: Gemeint ist das 1165 gegründete Zisterzienserkloster Dobraluh (Dobrilugk), heute Doberlug-Kirchhain (Brandenburg). Indem die Abgeschiedenheit der Klostermauern – das Gegenteil des idealen Lebens für einen lebensfrohen Minnesänger – hier als möglicher Zufluchtsort erscheint, wird die empfundene Trostlosigkeit zusätzlich betont.

Björk (Guðmundsdóttir): Jólakötturinn

Text: Jóhannes úr Kötlum; Musik: Ingibjörg Porbergs;
aus: Hvít Er Borg Og Bær (Sampler mit isländischen Weihnachtsliedern; 1987)

Liedtext und Song
Englische Fassung

Übersetzung aus dem Englischen:

Die Weihnachtskatze

Du kennst die Weihnachtskatze –
es ist eine sehr große Katze.
Wir wissen nicht, woher sie gekommen ist
und auch nicht, wohin sie gegangen ist.

Weit öffnete sie ihre Augen,
die beide glühten.
Es war keine Sache für Feiglinge,
sie anzusehen.

Ihr Fell war stachlig wie Nadeln,
ihr Rücken hoch und bucklig,
und die Krallen an ihren haarigen Pfoten
waren kein schöner Anblick.

Deshalb überboten sich die Frauen darin,
[den Flachs] zu schütteln und zu säen und zu spinnen
und strickten bunte Kleider
oder eine kleine Socke.

Damit die Katze nicht kommen
und die kleinen Kinder holen konnte,
mussten sie neue Kleider erhalten
von den Erwachsenen.

Wenn der Weihnachtsabend in hellem Licht erstrahlte
und die Katze zum Fenster hereinsah,
standen die Kinder aufrecht da mit roten Wangen
und ihren Geschenken.

Sie wedelte mit ihrem mächtigen Schwanz,
sie sprang, kratzte und schnaufte,
und das geschah entweder im Tal
oder draußen auf der Landzunge.

Sie lief herum, hungrig und heimtückisch,
im schmerzhaft kalten Weihnachtsschnee
und entfachte Angst in den Herzen
in jeder Stadt.

Wenn man draußen ein schwaches „Miau“ hörte,
wussten alle, dass ein Unglück geschehen würde.
Denn allen war klar, dass sie Menschen jagte
und keine Mäuse wollte.

Sie folgte den ärmeren Leuten,
die keine neuen Kleider bekamen
an Weihnachten – und sich durchschlugen
unter ärmlichsten Bedingungen.

Denen raubte sie nicht nur
ihr ganzes Weihnachtsessen,
sondern verschlang auch sie selbst,
wenn sie konnte.

Deshalb überboten sich die Frauen darin,
[den Flachs] zu schütteln und zu säen und zu spinnen
und strickten bunte Kleider
oder eine kleine Socke.

Manche bekamen eine Schürze,
andere einen neuen Schuh,
oder irgendetwas anderes, das sie brauchten,
aber das reichte aus.

Denn die Katze konnte niemanden fressen,
der ein neues Kleidungsstück bekommen hatte.
Dann fauchte sie mit ihrer hässlichen Stimme
und rannte weg.

Ob es sie noch gibt, weiß ich nicht,
aber ihr Raubzug wäre vergebens,
wenn jeder an Weihnachten
auch nur einen Fetzen neuer Kleidung bekäme.

Vielleicht denkst du daran,
zu helfen, wo es nötig ist.
Denn irgendwo könnte es Kinder geben,
die überhaupt nichts bekommen.

Und womöglich beschert dir die Sorge für die,
die nicht im Glanz der Lichter stehen,
eine glückliche Winterzeit
und ein frohes Fest.

Jennie Abrahamson: Snowstorm

aus: Gemini Gemini (2014)

Song und Liedtext, mit einführenden Worten der Sängerin

Übersetzung:

Schneesturm

Ein Schneesturm zieht herauf,
zieht herauf, um uns auszulöschen,
eine kalte, weiße Decke,
und alles wird ruhig sein.

Und wir sehen vom Fenster aus zu,
wir verkriechen uns in unseren Betten,
während der kalte Wind
über unseren Köpfen bläst.

Und wir kennen all die Gebete,
und wir kennen all die Verse,
aber wenn es jemals wieder Morgen wird,
haben wir sie drei Mal verleugnet.

Wir haben uns nie um das Wasser geschert.
Wir haben uns nie um die Bienen geschert.
Wir haben uns nie um die Hungernden geschert.
Wir haben uns nie um die Bäume geschert.

Bring es alles raus, bring es raus zum Feuer,
damit wir es warm haben, ehe wir alle hinweggerafft werden.
Ich weiß, mir bleibt nichts als ein stumpfer Pfeil.

So still, still, mein Schatz,
das Ende ist da,
keine Ammenmärchen mehr,
wir brauchen uns nichts mehr vorzumachen.

Denn wenn dieser Schneesturm heraufzieht,
heraufzieht, um uns auszulöschen,
wird niemand uns hören
und unsere stummen Schreie.

Wir haben uns nie um das Wasser geschert …

Bildnachweis: Ernst Adolph Meissner (1837-1902). Hirte rettet seine Herde vor dem Schneesturm. Privatbesitz

4 Kommentare

  1. Zu dem Bild mit den Schafen fällt mir folgendes ein:

    Manche Menschen sind am Ende
    Der Nacht zu Hause.

    Die meisten Menschen leben nur noch,
    Weil sie zuvor heilige Fische gefressen haben.

    Dafür erwarten sie noch Bewunderung.

    Der Maler und sein Bild sind sehr tröstlich – es gab Zeiten und Menschen darin, die bis zu einem tiefen Ursprung gut waren.

    Like

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