Musikalische Winterreise – Teil 2

Winter-Einsamkeit

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Aus der Perspektive des Subjekts erscheint der Winter als eine Zeit, in der Gefühle der Verlassenheit und der Verlorenheit sich stärker in den Vordergrund drängen. In einer Welt der Dunkelheit, der Kälte und der Erstarrtheit des Lebens gerät man leichter in eine emotionale Abwärtsspirale als im heiteren, Aufbruchstimmung signalisierenden Umfeld des Frühlings. So bietet der Winter denn auch die ideale Bühne für die Inszenierung von Liebesdramen, für die Gestaltung von Themenfeldern wie Abschied, Verlassenwerden und emotionaler Entfremdung, die in den „erstarrten Tränen“ der Schneeflocken eine nahe liegende Entsprechung finden. Er ist damit auch ein bevorzugter Ausgangspunkt für die romantische Sehnsucht, die sich – wie etwa in dem Liederzyklus Die Winterreise, Franz Schuberts kongenialer Vertonung der Gedichte Wilhelm Müllers – aus der erstarrten, grauen Gegenwart in eine idealisierte Vergangenheit hinüberträumt.

Unter den unzähligen Beispielen, die es für diese Art von Winterliedern gibt, habe ich hier zwei italienische Musikstücke ausgewählt. Dies liegt sicher auch an meiner deutschen Seele, die nun einmal, einer genetisch-goetheanischen Veranlagung folgend, in Italien ihren Sehnsuchtsort sieht – das Land, wo die Zitronen blühen, die so schön anzusehen sind, dabei aber so sauer schmecken, das Land der Träume, die nur schön sind, solange sie unerfüllbar bleiben. Allerdings muss ich zugeben, dass einer der beiden Sänger nur der Geburt nach Italiener (genauer: Sizilianer) ist – aufgewachsen ist er in Belgien, wo er auch heute noch lebt. Die meisten würden ihn wohl ohnehin eher als französischen Chansonnier bezeichnen. Und die Herzschmerzveteranen unter uns kennen ihn vielleicht gar als „Schnulzonnier“ aus der ZDF-Hitparade. Der raue, melancholische Schmelz seiner Stimme lässt aber ganz klar die italienischen Wurzeln durchschimmern.

Ja, richtig, ich rede von Salvatore Adamo, dessen Lied Tombe la neige (‚Der Schnee fällt‘ / ‚Es schneit‘) auch in einer heute weniger bekannten italienischen Fassung (Cade la neve) erschienen ist. Bei dem anderen Sänger handelt es sich um Sergio Endrigo, dessen zu Herzen gehende Aria di neve nicht nur inhaltlich Adamos Chanson bzw. Canzone ähnelt, sondern auch um dieselbe Zeit – in den 1960er Jahren – entstanden ist.

Als tröstendes Gegengift gegen den Winter-Blues wird oft angeführt, dass der Winter in Wahrheit ja nur eine Ruhephase des Lebens sei und die scheinbare Abwesenheit des Lebendigen gerade die Voraussetzung für dessen umso kraftvollere Wiederauferstehung darstelle. Die Hoffnungslosigkeit, die ein grauer Wintertag ausstrahlt, diese durch nichts aufgehellte Tristesse, wäre demnach nur ein Wahrnehmungsfehler, eine trügerische Fixierung auf den Augenblick, die das große Ganze, die ewige Wiederkehr des Lebens, außer Acht lässt.

Nun gilt allerdings dasselbe auch aus der umgekehrten Perspektive: Auch der Winter kehrt jedes Jahr zurück, die ewige Wiederkehr des Lebens beruht auf der ewigen Wiederkehr des Todes. So gesehen, ist die Erstarrtheit des Lebendigen im Winter eben doch eine absolute – denn jeder Neuanfang mündet notwendigerweise irgendwann in Verfall und Auflösung.

Diesen Widerstreit zwischen dem tröstenden Gedanken an den nächsten Frühling bzw. allgemein an glücklichere Zeiten und der Gewissheit, dass auch diese sich irgendwann wieder eintrüben werden, thematisiert Fabrizio de André in seinem Winterlied (Inverno). Beide Möglichkeiten der Betrachtung des Winters – die auf dessen absolute Geltung bezogene und diejenige, die ihn als Voraussetzung für die Wiedergeburt des Lebendigen ansieht – werden einander dabei in den einzelnen Strophen alternierend gegenübergestellt.

Lieder mit Texten und Übersetzungen

Salvatore Adamo: Tombe la neige (1963) / Cade la neve (1964) 

(beide Fassungen als Singles erschienen; Links jeweils mit Liedtext)

Übersetzung der französischen Fassung:

Es schneit

Es schneit,
du wirst nicht kommen heute Abend.
Es schneit,
und mein Herz trägt Trauer.
Dieser seidene Trauerzug
aus weißen Tränen,
der Vogel auf dem Ast,
der die verzauberte Welt beweint.

Du wirst nicht kommen heute Abend,
ruft meine Verzweiflung mir zu.
Aber es schneit immer weiter,
ein gleichgültiges Karussell.

Es schneit,
du wirst nicht kommen heute Abend,
Es schneit,
alles erstarrt in weißer Verzweiflung.
Traurige Gewissheit …
Die Kälte und die Abwesenheit,
diese schreckliche Stille,
weiße Einsamkeit.

Du wirst nicht kommen heute Abend,
ruft meine Verzweiflung mir zu.
// Aber es schneit immer weiter,
ein gleichgültiges Karussell. //

Übersetzung der italienischen Fassung:

Es schneit

Es schneit,
du wirst nicht kommen heute Abend.
Es schneit,
ich weiß, wir werden uns nicht sehen.

Die schlafende Stadt
hüllt sich in eine weiße Decke,
während mein Herz
Trauer trägt.

Du wirst nicht kommen heute Abend,
ich werde vergebens warten,
während der Schnee
langsam vom Himmel fällt.

Es schneit …

Auf der menschenleeren Straße
ist keine einzige Stimme zu hören.
Mir ist zum Sterben zumute,
du bist so weit weg von mir.

Du wirst nicht kommen heute Abend,
ich werde vergebens warten,
// während der Schnee
langsam vom Himmel fällt. //

Sergio Endrigo: Aria di neve
aus: Sergio Endrigo (1962)

Liedtext

Übersetzung:

Schnee-Arie / Schneeluft

Über den Wolken herrscht Heiterkeit,
aber unsere Liebe
ist kein Teil des Himmels.
Wir sind hier unten,
zwischen den Dingen des täglichen Lebens,
des Alltags, des grauen Alltags.

Ein Hauch von Schnee streift dein Gesicht,
meine Worte
klingen bitter,
ohne besonderen Grund.
Früher oder später wird unseren Händen
alles entgleiten.

Es ist ein unmögliches Leben,
dieses gemeinsame Leben mit dir,
du lachst nicht, du weinst nicht,
du redest nicht mehr
und kannst mir nicht sagen, warum.

Auf der Straße unserer Liebe
habe ich mir schon
tausend neue Lieder ausgedacht
für deine Augen,
mehr als tausend neue Lieder,
die du niemals singen wirst.

Fabrizio de André: Inverno
aus: Tutti morimmo a stento (1968)

Text: Fabrizio de André; Musik: Gianpiero Reverberi und Fabrizio de André

Liedtext

Übersetzung: 

Winter

Der Nebel steigt aus den weißen Wiesen,
wie eine Zypresse auf dem Friedhof,
ein Glockenturm, der unwirklich wirkt,
so zieht er eine Grenze zwischen Himmel und Erde.

Aber du, der du gehst – bleib doch!
Du wirst sehen, der Nebel wird schon morgen verschwinden,
die vergangenen Freuden werden wieder erblühen
im warmen Wind eines neuen Sommers.

Selbst das Licht scheint abzusterben
in dem ungewissen Schatten eines Wandels,
in dem selbst die Morgendämmerung sich abendlich färbt
und die Gesichter wie wächserne Schädel wirken.

Aber du, der du gehst – bleib doch!
Selbst der Schnee wird morgen sterben,
die Liebe wird uns wieder in den Arm nehmen
im Blütenduft des Weißdorns.

Unter dem Schnee träumt die müde Erde
schweigend einen schweren Traum.
Der Winter drückt sie nieder
mit der Müdigkeit aus Tausenden von Jahren.*

Aber du, der du verweilst – warum bleibst du?
Schon morgen wird ein neuer Winter kommen,
und neuer Schnee wird tröstend auf die Felder
und auf die Friedhöfe fallen.

*     wörtlich: Der Winter versammelt in sich die Müdigkeit / aus tausend Jahrhunderten, seit einer lange zurückliegenden Morgendämmerung.
Bildnachweis:  Саврасов, Алексей Кондратьевич (1830- 1897) Зимняя дорога. Alexei Kondratjewitsch Sawrassow: Winterlicher Weg, 1870

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