Das verlorene Volk

Kommentar zum Ausgang der Wahlen zum britischen Unterhaus

london-3013058_1920 (2) Peter Skitterjahns

Der überwältigende Wahlsieg von Boris Johnson, von dem nun allenthalben die Rede sein wird, ist vor allem eines nicht: ein Sieg.

Anti-Brexit-Votum als Brexit-Votum
Auf dem Weg zu einem Klein-Britannien
Sieg des autoritären Populismus
 

Anti-Brexit-Votum als Brexit-Votum

Der überwältigende Wahlsieg von Boris Johnson, von dem nun allenthalben die Rede sein wird, ist vor allem eines nicht: ein Sieg.
Er ist kein Sieg, weil der Wahlerfolg lediglich auf arithmetischer Willkür beruht. Nach bisheriger Auszählung haben die Remainer mehr Stimmen auf sich vereinen können als das Brexit-Lager. Die Parlamentsmehrheit der Tories verdankt sich also nur dem britischen Mehrheitswahlrecht. Wenn es, wie etwa in Frankreich üblich, bei fehlender absoluter Mehrheit eines Kandidaten in einem Wahlkreis eine zweite Wahlrunde gäbe, würde es für die Tories wahrscheinlich nicht für eine Mehrheit im britischen Unterhaus reichen.
Hinzu kommt, dass die Parlamentswahl auch das Ergebnis des Brexit-Referendums bestätigt hat. London und andere große Städte, Schottland, Nordirland – gegen den Brexit. Die Jugend und die Geschäftswelt – gegen den Brexit. Das Brexit-Votum, das sich nun mit dem Johnson-Votum vermengt, ist also keineswegs ein Votum des britischen Volkes. Es ist ein Befindlichkeitsvotum eines Teils dieses Volkes, ein Votum von Menschen, die ein diffuses Unbehagen empfinden angesichts unkontrollierbarer Entwicklungen wie Globalisierung und Digitalisierung.
Der Ruf „Take back control“ läuft aber ins Leere, wenn er sich in Wahrheit auf Dinge richtet, auf die eine britische Regierung nur bedingt Einfluss nehmen kann. Auf den Hurra-Patriotismus der Brexit-Entscheidung wird deshalb ein schwerer Kater folgen. Das Ergebnis wird eben nicht eine neue Freiheit und eine Rückkehr zu alter Größe sein, sondern die Unfreiheit einer Insel, die in ihren Entscheidungen von den Beschlüssen anderer abhängt, ohne selbst darauf Einfluss nehmen zu können.

Auf dem Weg zu einem Klein-Britannien

Gut möglich, dass am Ende sogar Groß-Britannien zu einem Klein-Britannien schrumpfen und am Ende ganz auf England reduziert sein wird. Die schottischen Unabhängigkeitsbestrebungen sind durch den überwältigenden Wahlerfolg der Scottish National Party gestärkt worden. Und die Nordiren haben laut Karfreitagsabkommen, mit dem der blutige Nordirlandkonflikt 1998 vorläufig beigelegt wurde, ein Recht auf eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung mir Irland. Von diesem Recht haben sie bislang nur deshalb nicht Gebrauch gemacht, weil die Katholiken – als Hauptbefürworter der Wiedervereinigung – in der Minderheit waren.
Mittlerweile hat sich aber nicht nur der Anteil der Katholiken an der nordirischen Bevölkerung erhöht. Vielmehr hat der bevorstehende Brexit auch unter den nordirischen Protestanten zu einem Umdenken geführt. Schon jetzt besitzen viele neben dem britischen auch einen irischen Pass, was den Übergang in ein vereintes Irland fraglos erleichtern würde.
In Wales hat zwar die Mehrheit der Bevölkerung für den Brexit und jetzt auch für die Tories votiert. Auch hier hat sich jedoch in letzter Zeit die Besinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln verstärkt. Walisisch zu sprechen, gilt nicht mehr, wie früher, als unpatriotisch, sondern wird im Gegenteil durch diverse Programme gezielt gefördert.
Der Hauptgrund, für den Brexit zu votieren, war in Wales das Gefühl vieler Menschen, von Europa bevormundet zu werden und dadurch wirtschaftliche Nachteile zu erleiden. Der Wunsch nach einer Wiedererlangung der nationalen Eigenständigkeit beruhte somit auf der Hoffnung, hierdurch die ökonomischen Nachteile einer europäischen Randregion ausgleichen zu können. Dieser Wunsch wurde und wird einstweilen auf das Gebilde „Großbritannien“ projiziert. Wenn aber erst einmal klar wird, dass der Brexit mit dem Wegfall der entsprechenden EU-Förderprogramme die Probleme eher noch verstärkt, wird der Wunsch nach Unabhängigkeit sich rasch von der größeren auf die kleinere Einheit – also auf Wales – verlagern.
Der Brexit wird auf Jahre hinaus eine schwere Hypothek für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Großbritanniens sein. Er ist ein Schlag ins Gesicht der Jugend – und das ausgerechnet in einer Zeit, in der überall davon die Rede ist, dass wir die Zukunft für die kommende Generation bewahren müssten.

Sieg des autoritären Populismus

Der Erfolg Boris Johnsons bestätigt aber auch auf erschreckende Weise die Tendenzen, demokratische Entscheidungsprozesse immer mehr für die Zwecke eines autoritären Populismus zu instrumentalisieren. Wie Boris Johnson schon vor den Wahlen das Parlament suspendiert hat, weil er Mitbestimmung und Debatten als störend empfindet, wie er Abgeordnete, die beim Brexit abweichender Meinung waren, aus der Fraktion ausgeschlossen hat, hat er auch alle neuen ParlamentskandidatInnen eine Art Glaubensbekenntnis zum Brexit unterschreiben lassen. So wird die neue Tory-Fraktion ein reiner Abnicker-Verein sein, eine Ansammlung von Johnson-Klonen, die schon aus Angst um das eigene Mandat alles tun werden, um den neuen Führer nicht zu verärgern.
Wie gesagt: Das Votum für diesen Führer ist kein Mehrheitsvotum. Die Opposition hätte die Chance gehabt, ihn zu verhindern. Dafür hätte sie nur die Größe haben müssen, sich angesichts der historischen Bedeutung der Brexit-Entscheidung über persönliche Eitelkeiten hinwegzusetzen. Statt den Wahlberechtigten im letzten Moment zu empfehlen, taktisch zu wählen, hätten zu Beginn des Wahlprozesses Bündnisse geschlossen werden können. Es wäre möglich gewesen, sich in den Wahlkreisen auf den jeweils chancenreicheren Kandidaten zu einigen, verbunden mit einer entsprechenden Wahlempfehlung der nicht antretenden Partei.
Bei einem Sieg der Opposition hätte auch das überfällige zweite Referendum noch eine Chance gehabt. Denn Boris Johnson tut ja keinesfalls das, was er behauptet: den „Volkswillen“ umsetzen. Er vergewaltigt vielmehr den Willen des eigenen Volkes, indem er eine Befindlichkeitsentscheidung eines Teils des Volkes für sakrosankt erklärt und dem Volk das Recht abspricht, das Ergebnis des dadurch eingeleiteten Prozesses rational zu bewerten.
Wäre, hätte, könnte … Jetzt ist es zu spät. Die Erfahrung lehrt: Wenn ein autoritär gesinnter Politiker die Macht erst einmal in Händen hält, gibt er sie so schnell nicht mehr her. Der antidemokratische Virus, der ihn an die Macht gespült hat, wird sich durch seine Machtergreifung noch weiter verbreiten und das Kulturleben wie die Medien, die Bildung wie die politischen Debatten schleichend infizieren.
Die einzige Hoffnung, die der Wahlerfolg bietet, ist, dass es diesem Politiker immer in erster Linie um eines gegangen ist: um sich selbst. Nun, da er die Macht in Händen hält, besteht für ihn keine Notwendigkeit mehr, durch schrille Anti-EU-Töne für sich zu werben. Vielleicht liegt darin die Chance, dass wenigstens die anstehenden Verhandlungen über das Zollabkommen mit der EU und die detaillierte Regelung über die künftigen Beziehungen in einer konstruktiveren Atmosphäre ablaufen.

 

Literarischer Text zum Thema: Brexit

 

Bild: Peter Skitterians: London (Pixabay)

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