Zur Diskussion um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht
Die neue Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl, hat die Aussetzung der Wehrpflicht in einem Interview mit der Funke-Mediengruppe als „Riesen-Fehler“ bezeichnet. Nur durch die Wiedereinführung der Wehrpflicht könne rechtsextremen Tendenzen in der Bundeswehr dauerhaft entgegengewirkt werden. Diese Einschätzung ist nicht nur geschichtsvergessen. Eine Wehrbeauftragte, die für Zwangsmaßnahmen wirbt, wird auch ihrer Schutzfunktion für die Rekruten nicht gerecht.
Anfänge der Bundeswehr: „Von vornherein offensiv“
Der Fußschweiß der Wehrmacht
Die Bundeswehr als Abenteuer-Camp
Struktureller Rechtsextremismus
Nachweise
Anfänge der Bundeswehr
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland, wie wir alle wissen, entwaffnet. Was weniger bekannt ist: Bereits unmittelbar danach setzten Bestrebungen von Wehrmachtsangehörigen ein, die zerschlagenen Strukturen wiederzubeleben.
Das entscheidende Datum für die westdeutsche Wiederbewaffnung ist der 6. Oktober 1950. An diesem Tag trafen sich im Kloster Himmerod in der Eifel ehemalige Wehrmachtsoffiziere und erarbeiteten eine Denkschrift, in der die Grundzüge des künftigen deutschen Militärkonzepts festgelegt werden sollten. Geleitet wurden die Gespräche von Gerhard Graf von Schwerin, einem Kriegsverbrecher, der im Rahmen des Westfeldzugs der Wehrmacht gezielt schwarzafrikanische Soldaten im Dienste der französischen Armee hatte ermorden lassen.
Das Militärkonzept, das die Denkschrift vorschlug, war keineswegs defensiv angelegt. Den Autoren schwebte vielmehr eine „Gesamtverteidigung von den Dardanellen bis nach Skandinavien“ vor, die „von vornherein offensiv“ ausgerichtet sein sollte. Auch wollte man die Armee mit „modernen Waffen“ ausstatten, also auch eine atomare Bewaffnung vorantreiben (1).
Gegen dieses an die alte preußische Militärherrlichkeit anknüpfende Gedankengut regte sich schon früh Widerstand. So wurde die 1955 beschlossene Wiederbewaffnung durch Maßnahmen flankiert, die imperialistischen und faschistoiden Tendenzen vorbeugen sollten. An die Stelle von blindem Gehorsam und unreflektiertem Patriotismus sollte das Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“ treten, der sich in erster Linie als Verteidiger der rechtsstaatlichen Ordnung seines Landes verstehen sollte.
Dem entsprach auch der Gedanke der „Inneren Führung“, der den Aspekt des eigenverantwortlichen Handelns stärker betonen sollte. Befehle sollten für die Soldaten durchschaubar bleiben und stets den von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gesteckten Rahmen respektieren. Jeder Gedanke eines „Befehlsnotstands“, durch den auch gegen die Menschenrechte verstoßende Befehle blind befolgt werden könnten, sollte radikal ausgeschlossen werden. Auch die allgemeinen Umgangsformen in der Bundeswehr sollten von einem demokratischeren Geist getragen sein und auf dem Prinzip der Menschenwürde basieren.
Für den Fall, dass diese Regeln missachtet werden sollten, wurde den Rekruten ein Beschwerderecht eingeräumt. Zu diesem Zweck wurde 1957 der Posten eines Wehrbeauftragten geschaffen, der die Einhaltung demokratisch-rechtsstaatlicher Standards in der Bundeswehr überwachen sollte.
Der Fußschweiß der Wehrmacht
All dies sollte verhindern, dass die Armee sich wieder zu einem Staat im Staate aufschwingt, anstatt lediglich der Verteidigung der Verfassung zu dienen. Die in ihren Grundzügen von Wolf Graf von Baudissin formulierten Ideale einer demokratisch geprägten Parlamentsarmee ließen sich jedoch von Anfang an nicht adäquat umsetzen. So ergab sich etwa das strukturelle Problem, dass die Umsetzung des Konzepts der Inneren Führung in den Zuständigkeitsbereich des Generalinspekteurs verlegt wurde, dieser aber keine Weisungsbefugnis gegenüber der Führungsebene der einzelnen, von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen durchsetzten Teilstreitkräfte hatte (2). Dadurch entfalteten diese ein Eigenleben, das dem Gedanken einer demokratisch kontrollierten, rechtsstaatlich geprägten Armee teilweise diametral entgegengesetzt war.
Der „Fußschweiß der Wehrmacht“ (3), der allenthalben in den Kasernen der Bundeswehr zu riechen war, sollte zwar Ende der 1960er Jahre durch Reformen des damaligen Verteidigungsministers Helmut Schmidt vertrieben werden. Dabei ging es insbesondere um eine Bildungsoffensive, die die Armee stärker auf das demokratische Gedankengut verpflichten und den geistigen Horizont der Soldaten erweitern sollte.
Eine durchgreifende Wirkung haben die Reformen allerdings nicht erzielt. Dies zeigte sich nicht zuletzt an den Protesten gegen die Wehrmachtsausstellung, die seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in mehreren deutschen Städten die Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg dokumentierte. Der Widerstand gegen die Ausstellung verwies spiegelbildlich auf den noch immer vorherrschenden Gedanken einer im Kern „anständigen“ Armee, die von Hitler für fremde Zwecke und ihrem eigenen Geist widersprechende Taten missbraucht worden sei.
Parallel dazu führten die Wiedervereinigung und der dadurch bedingte Wegfall der letzten alliierten Kontrollrechte sowie die vermehrte Diskussion über Auslandseinsätze dazu, dass die demokratisch-humanistische Ummäntelung der Bundeswehr löchrig wurde. So bekannte sich Hartmut Bagger, bis 1999 Generalinspekteur der Bundeswehr, 1994 offen zu dem in seinen Augen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Militär und (demokratischer) Gesellschaft. Für beide seien jeweils „unterschiedliche Werthierarchien, Leitbilder, Normen und Verhaltensweisen“ maßgeblich. Der „freiheitlichen, pluralistischen Staats- und Gesellschaftsordnung“ stünde der Grundgedanke der „Ein- und Unterordnung“ auf Seiten der „hierarchisch aufgebauten Armee“ entgegen (4).
Vor diesem Hintergrund erhielten auch offen rechtsextreme Tendenzen in der Bundeswehr Aufwind. Auch diese formierten sich allerdings nicht etwa in geheimen Zirkeln, sondern wurden offen gefördert. So ließ das Verteidigungsministerium 1998 einen Generalmajor in die Führungsakademie der Bundeswehr aufnehmen, der das Ideal der „Gefolgschaftstreue“ wieder aufleben lassen und „Tradition des preußisch-deutschen Generalstabs“ stärker in der Ausbildung der Offiziere verankern wollte (5).
So verwundert es auch nicht, dass 1999 bei 25 Prozent der jüngeren Offiziere „nationalistisches und fremdendistanzierendes Gedankengut“, wie es für rechtsextremes Denken charakteristisch ist, nachgewiesen wurde. An 140 Standorten der Bundeswehr waren Ende der 1990er Jahre rechtsextreme Tendenzen zu verzeichnen (6).
Die Bundeswehr als Abenteuer-Camp
Nun könnte man sagen: Das ist doch alles schon so lange her. Heute ist die Bundeswehr längst zu einer Institution gereift, die fest im Gefüge des demokratischen Rechtsstaats verankert ist.
Als Gegenargument taugen hier allerdings nicht nur die rechtsextremen Tendenzen im Kommando Spezialkräfte (KSK), das eben deshalb vor Kurzem in Teilen aufgelöst worden ist (7). Vielmehr hat die Aussetzung der Wehrpflicht die Bundeswehr auch dazu genötigt, in Plakaten und Filmen für die Anwerbung von Rekruten ihr Selbstbild zu definieren und nach außen hin zu präsentieren.
Dieses Selbstbild zeugt nun nicht gerade von dem Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“, der als selbstbewusster Demokrat den Dienst an der Waffe lernt, um den Rechtsstaat gegen Feinde zu verteidigen. In der YouTube-Serie Die Rekruten sieht man stattdessen junge Männer, die sich beim Morgenappell vor Sonnenaufgang dafür rechtfertigen müssen, sich nicht ordentlich rasiert zu haben; die beim Marschieren dafür gerügt werden, nicht den vorschriftsmäßigen Abstand zum Vordermann einzuhalten; die das altbekannte Gebell der Ausbilder mit Schäferhundgeduld über sich ergehen lassen (8). Wer nicht stark genug ist, sich dieser Gehorsams-Tortur zu unterziehen, scheidet – wie in der RTL-Serie Big Brother – aus dem Dienst aus.
Hier stellt sich nicht nur die Frage, wo und wie den Ausbildern der demokratische Geist abhanden gekommen ist. Unklar ist auch, wie die Verabsolutierung der Sekundärtugend „Gehorsam“ die Rekruten dazu befähigen soll, ihr Land vor den Gefährdungen der Gegenwart zu bewahren. Ist es bei den modernen Cyber-Kriegen hilfreich, durchs taunasse Gras robben zu können? Beeindruckt es die Gegner in den asymmetrischen Kriegen der Jetzt-Zeit, wenn wir unsere Hemden auf Kante in den Schrank legen?
Die Werbefilme für die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind freilich sehr weit entfernt von den Niederungen, die die Serie Die Rekruten vor Augen führt. Hier ist jeder sein eigener Bruce Willis, der todesmutig den außerirdisch anmutenden Feind beiseitefegt. Dazu wird eine Kameradschaft gefeiert, die stark nach Abenteuer-Camp riecht. Auch der Dienst an der Waffe wird zum Computerspiel verfremdet. Das Töten und Getötetwerden, also das Kerngeschäft des Krieges, erscheint so wie das Gewinnen und Verlieren von Punkten im Ranking eines Online-Spiels (9).
Der bekannte Werbespruch der Bundeswehr-Werbung – „Mach, was wirklich zählt“ – erhält so gleich in doppelter Hinsicht eine undemokratische Akzentuierung. Nicht nur diskreditiert er alle anderen Berufe, bei denen sich Menschen in den Dienst der Gesellschaft stellen (insbesondere Berufe im Pflege- und Medizinbereich sowie im Erziehungs- und Bildungsbereich), als weniger wichtig. Er unterstellt auch, dass das blinde Aufgehen in einer Gemeinschaft mit demokratischem Denken vereinbar ist. Dabei ist genau hierin die Gefahr eines Verlusts der kritischen Distanz zu demokratiefeindlichen Tendenzen begründet.
Struktureller Rechtsextremismus
Dies alles zeigt: Rechtsextremismus in der Bundeswehr ist keine Einzel- oder Randerscheinung. Er bezeichnet vielmehr ein Strukturproblem unserer Armee. Die beständig ansteigende Zahl der Wehrdienstverweigerer, die es vor der Abschaffung der Wehrpflicht gegeben hat (10), ist deshalb ein positives Zeichen. Es zeigt, dass unsere Demokratie und unser Bildungswesen lebendig genug sind, um junge Menschen für antidemokratische Tendenzen in der Bundeswehr zu sensibilisieren.
Auch die Aussetzung der Wehrpflicht erweist sich vor diesem Hintergrund als demokratische Errungenschaft. Denn auf diese Weise wird verhindert, dass junge Menschen regulär einem Gedankengut ausgesetzt werden, das dem demokratischen Geist strukturell widerspricht.
Gedankenspiele für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht lassen sich denn auch nicht mit einer hierdurch angeblich zu bewirkenden Eindämmung des Rechtsextremismus begründen. Was mit ihr erleichtert werden könnte, wäre allenfalls die Rekrutierung von Berufssoldaten, für die derzeit mehrere Millionen teure Werbekampagnen erforderlich sind.
Völlig unverständlich ist allerdings, dass die Wiedereinführung der Wehrpflicht ausgerechnet von der Wehrbeauftragten gefordert wird – also von jemandem, der qua Amt für den Schutz der Rekruten und die Bewahrung der Bundeswehr vor antidemokratischen Tendenzen zuständig ist. Noch unverständlicher ist, dass es sich dabei um eine sozialdemokratische Politikerin handelt.
Arbeitet die SPD derzeit etwa intensiv an der Unterschreitung der 10-Prozent-Marke? Oder wollen die Sozis mal wieder ihr Uralt-Trauma der Schmähung als vaterlandslose Gesellen abschütteln, indem sie sich als besonders patriotisch präsentieren?
Klar ist jedenfalls: Mit derart markigen Auftritten gewinnt man vielleicht die Sympathien gewisser alter Haudegen – die übrigens rechtsextremen Gedankenspielen nicht allzu abgeneigt sein dürften. Mit den Wurzeln der Sozialdemokratie hat das allerdings herzlich wenig zu tun. Diese Wurzeln liegen in der Internationalen Arbeiterbewegung, als dem Gegengewicht gegen die globale Allianz des Kapitals.
Hieran sollte sich die SPD erinnern, wenn sie ihr wiederentdecktes soziales Gewissen glaubhaft nach außen hin präsentieren möchte. Dies muss aber notwendigerweise mit einem Bekenntnis zum Pazifismus einhergehen. Denn anders ist eine internationale Solidarität unter den abhängig Beschäftigten kaum zu erreichen. Nur so lassen sich diese gegen den patriotischen Rausch immunisieren, durch den sie für Zwecke vereinnahmt und in Kriegen verheizt werden können, die ihren eigenen Interessen zuwiderlaufen.
Junge Leute im Dienst an der Waffe und in der Kunst der Unterwerfung zu unterweisen, dürfte dafür kaum hilfreich sein.
Nachweise
(1) Zit. nach Bald, Detlef: Die Politik der Wiederbewaffnung. Dossier Verteidigungspolitik. Bonn 2015: Bundeszentrale für politische Bildung.
(2) Vgl. ebd.
(3) Nadolny, Sten: Selim oder Die Gabe der Rede (1990), S. 144. München 1994: dtv. Im Zentrum des teilweise autobiographisch gefärbten Romans steht zwar der türkische Migrant Selim. Anhand des zweiten Protagonisten Alexander wird jedoch auch ein Blick auf das Innenleben der Bundeswehr in den 1960er Jahren geworfen.
(4) Bagger, Hartmut: Anforderungen an den Offizier des Heeres, Weisung des Generalinspekteurs der Bundeswehr vom 29. Juli 1994; hier zitiert nach Bald, Detlef: Die Macht- und Militärpolitik der Bundesrepublik. Dossier Nr. 53. In: Wissenschaft & Frieden 2006, H. 3, herausgegeben von W&F in Zusammenarbeit mit der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden (IWIF).
(5) Generalmajor Jürgen Reichardt, zit. nach ebd.
(6) Vgl. Bald, ebd.
(7) Hock, Alexej / Schweppe, Christian: Eine Chronik vieler Unrühmlichkeiten. Rechtsextremismus beim KSK. In: Die Welt, 2. Juli 2020.
(8) Vgl. Die Rekruten, Teil 15: Die erste Morgenmusterung. 21. November 2016.
(9) Vgl. Trailer zur Serie Mali. 9. Oktober 2017.
(10) Vgl. Bald (2006); s. (4).
Weitere Essays zum Thema Miltär:
Der alltägliche Krieg – Militarismus in Deutschland
Todessehnsucht und Tötungsauftrag – Über einige Besonderheiten des Tötens im Krieg
Mir hat sehr gefallen, dass die Geschichte historisch aufgezogen wurde. Als Schäferhunde- bzw. -hündinnenführer kann ich dem hier vom Schäferhund gezeichneten Bild nicht zustimmen.
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Ja, das mit dem Hund sah auch Ilka kritisch. Sie ist mit Schäferhunden aufgewachsen und mag sie sehr. Ich wollte auf alle Fälle auch keinen Hund beleidigen 😉
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Ilkas Kritik sollte immer berücksichtigt werden.
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Das ist der mit Abstand beste Text, den ich zum Thema gelesen habe: Ausgewogen und informativ!- Der Argumentation ist nichts hinzuzufügen!- Weiter so!
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Danke!
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