Überdreht. Teil III. Kapitel 4: Auferstehung / Overturned. Part III. Chapter 4: Resurrection

Auch wenn die Hitze der vergangenen Tage etwas anderes vermuten lässt: Der Sommer in Mitteleuropa geht nun allmählich zu Ende. So endet nun auch das Sommerprogramm auf rotherbaron und Literaturplanet.
Auf Literaturplanet ist bereits am vergangenen Mittwoch – als Abschluss der diesjährigen musikalischen Sommerreise – eine PDF mit allen Beiträgen zum diesmaligen Thema Tanz aus der Krise erschienen: zehn Essays zu Tänzen, Liedern und Literaturen verschiedener Länder. Auf rotherbaron gibt es heute den Schlusspunkt mit dem letzten Kapitel von Rothildas Roman Überdreht. Nächste Woche folgt dann noch die PDF zum kompletten Teil 3. Dann wird der Roman auch als E-Book verfügbar sein.
Für den Herbst ist ein weiterer Fortsetzungsroman geplant. Dieser wird dann aber wieder dort erscheinen, wo die Literatur zu Hause ist: auf dem Literaturplaneten.

4. Auferstehung

Unsichtbare Hände tätschelten Maggies Wangen, strichen ihr über das Haar, rieben fremde Düfte in ihre Haut. Lange schon hatte sie die Berührungen des Windes nicht mehr so genossen.
Hatte vielleicht, fragte sie sich, all das Gerede von der „Kraft“ des Windes und ihrer optimalen Nutzung den Wind am Ende seines Geheimnisses beraubt – seiner Freiheit, überall und nirgends zu sein?
Blinzelnd sah sie zu den Hügeln hinüber, hinter denen gerade die Sonne aufgegangen war. In dem schrägen Licht waren die Windradruinen nicht zu erkennen. Alles sah wieder so aus wie früher. Natürlich wusste sie, dass das nur eine Illusion war. Dennoch genoss sie es, endlich wieder den Schrei des Bussards hören zu können, ohne Angst zu haben, dass dem mächtigen Vogel im nächsten Augenblick die Flügel an den Windrädern gebrochen würden. Endlich umgab sie wieder das freie Rauschen des Windes und nicht mehr dieses gierige Hecheln der Rotoren.
Ein Rascheln in der kniehohen Wiese vor ihr ließ sie aufhorchen. Zuerst war nur ein hochgestellter roter Ringelschwanz zu sehen, dann tauchte auch der dazugehörige Körper aus dem Meer der Gräser auf. Es war Stormy, ihr feuerroter Kater, der ihr kürzlich zugelaufen war. Kaum war sie wieder in ihr altes Haus zurückgekehrt, da hatte er plötzlich vor ihrer Tür gestanden. Ein struppiger Feuerteufel, dem nichts geblieben war als sein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Freigiebig hatte er seine Flöhe mit ihr geteilt, indem er sich intensiv um ihre Beine ringelte. Irgendwie musste er gespürt haben, dass er hier auf eine kinderlose Katzenmutter gestoßen war.
„Na, du Räuber?“ begrüßte sie ihren Mitbewohner. „Lust auf Frühstück?“
Ein klägliches Maunzen, mit dem Stormy vor dem Küchenfenster Position bezog, war die Antwort.
Maggie schmunzelte. Wie viel Glück sie doch gehabt hatte, dass ihr Haus noch nicht den Windrädern geopfert worden war! Für diesen Fall sah das „Gesetz zur Aufarbeitung des Windstromzeitalters“ vor, dass die ehemaligen Eigentümer wieder in ihre Häuser zurückkehren durften. Die erhaltene Entschädigung konnte in monatlichen Raten zurückgezahlt werden.
Andere, so wusste sie, hatten weniger Glück gehabt. Entweder hatten die Windräder ihre Häuser bereits verdrängt, oder deren Mauern ragten nur noch verloren aus den Trümmerfeldern heraus, die von den zahllosen Stahlbetontürmen zurückgeblieben waren.
Andererseits, überlegte Maggie: Hätte es denn eine Alternative zu der Bombardierung der Windkraftanlagen gegeben? Wenn die Kampfjets nicht umgehend den Einsatzbefehl erhalten und die Anlagen in Schutt und Asche gelegt hätten, wären die fremden Raumschiffe wohl weiter unbeirrbar auf ihr Ziel zugeflogen. Dann wäre die Erde jetzt wahrscheinlich die Kolonie eines anderen Planeten. Und dann würde auch sie jetzt nicht hier stehen und von einer besseren Zukunft träumen.
Natürlich war auch ihr klar, dass die Zukunft einstweilen wirklich nichts anderes war als ein schöner Traum. Niemand hatte auch nur die geringste Vorstellung davon, wo und wie man die Millionen Tonnen von Schrott, die von den Windrädern übrig geblieben waren, entsorgen sollte.
Maggie zog ihren Morgenmantel enger um ihre Schultern. Die Sommerhitze war vorbei, morgens kühlte es schon wieder spürbar ab. Ein leichter Schauer lief über ihre Haut. Sie musste an den Tag danach denken, an den Morgen, als allmählich klar wurde, dass es gelungen war, den Angriff auf die Erde abzuwehren. Zögerlich waren alle aus ihren Bunkern und Kellerlöchern ans Tageslicht gekrochen, vorsichtig hatten sie sich umgesehen, aus Angst, irgendwo könnte ihnen doch noch ein kleines grünes Männchen auflauern.
Staunend hatten sie einander angesehen. Die Masken waren von den Gesichtern abgefallen, jeder war auf einmal wieder der, der er war. Lange Zeit hielt eine seltsame Scheu sie davon ab, aufeinander zuzugehen – als fürchteten sie, den anderen zu verletzen, wenn sie der zerbrechlichen Hülle seines Seins zu nahe kämen.
Nie zuvor hatten sie das Blut in ihren Adern so intensiv pulsieren gefühlt. Von einer Sekunde zur anderen erhielten alle die Hoheit über ihr eigenes Leben zurück. Beschämt traten sie wieder in ihre Rechte ein, wie Menschen, die eine Nacht lang nackt auf einem öffentlichen Platz getanzt haben und am nächsten Morgen mit verkatertem Kopf ein Foto von ihrem Exzess in der Zeitung sehen.
Es war ein bisschen wie nach dem Krieg. Überall standen Ruinen herum, von dem früheren Leben war nur ein morsches Gerippe übrig geblieben. Die äußere Welt lag wie die innere in Trümmern. Alles musste wieder neu aufgebaut werden. Das Leben musste wieder neu gelernt werden. Die Zukunft war wieder ein ungeschriebenes Buch.
Das Geräusch der Gartentür riss Maggie aus ihren Gedanken. Es war Thilio. Mit einem gebrummelten Morgengruß legte er den Arm um ihre Schultern und sog mit ihr die taugetränkte Luft ein.
Eine Zeit lang standen sie schweigend nebeneinander und lauschten dem Morgenkonzert der Grillen. Dann sinnierte Maggie: „Ein Angriff von außerirdischen Kriegern … Ich kann es noch immer nicht glauben! Ich dachte immer, so etwas gibt es nur im Kino …“
Thilio vergrub sein Gesicht in ihren Locken, in denen sich der duftende Atem des Windes verfangen hatte. „Ja“, flüsterte er, „es ist einfach unvorstellbar.“

English Version

Even if the heat of the past few days suggests otherwise: the summer in Central Europe is coming to an end. So the summer programme on rotherbaron and Literaturplanet is now also drawing to a close.
On Literaturplanet a PDF with all the posts to this year’s theme „Dance out of the crisis“ was already published last Wednesday. As the conclusion of this year’s musical summer journey, it contains ten essays on dances, songs and literature from different countries. On rotherbaron we have the final today with the last chapter of Rothilda’s novel Overturned. Next week the PDF of the complete part 3 will follow. Then the novel will also be available as e-book.
Another serial novel is planned for autumn. It will be published again where literature is at home: on Planet Literature.

4. Resurrection

Invisible hands patted Maggie’s cheeks, stroked her hair, rubbed unknown scents into her skin. For a long time she hadn’t enjoyed the touch of the wind so much.
Had perhaps, she wondered, all this fuss about the „power“ of the wind and its most efficient use deprived the wind of its secret in the end – its freedom to be everywhere and nowhere at the same time?
Blinking, she looked over to the hills behind which the sun had just risen. In the oblique light the ruins of the wind turbines were not to be seen. Everything looked again as before. Of course she knew that this was just an illusion. Nevertheless, she enjoyed hearing the buzzard’s cry again without worrying that the wings of the mighty bird would be broken at the rotor blades. Finally she was surrounded by the free rustle of the wind again and no longer by the greedy panting of the rotors.
A shuffling noise in the knee-high meadow in front of her attracted her attention. At first, only a raised red striped tail was visible, then the corresponding body emerged from the sea of grass. It was Stormy, her fiery red tomcat, who had recently decided to live with her. She had just returned to her old house when he suddenly appeared at her door. A shaggy fire devil, who had nothing left but his unshakable self-confidence. Generously he had shared his fleas with her, wrapping his tail around her legs. Somehow he must have sensed that he had come across a childless mother cat.
„Hey there, little robber,“ she greeted her housemate. „Feel like some breakfast?“
A pitiful meowing, with which Stormy took position in front of the kitchen window, was the answer.
Maggie smiled. How lucky she had been that her house had not yet been sacrificed to the wind turbines! In this case, the „Law for the Reappraisal of the Wind Power Age“ provided that the former owners were allowed to return to their houses. The compensation received could be repaid in monthly instalments.
Others, she knew, had been less fortunate. Either the wind turbines had already displaced their houses, or their walls just protruded uselessly from the ruins that had remained from the countless reinforced concrete towers.
On the other hand, Maggie pondered: Would there have been an alternative to bombing the wind turbines? If the fighter jets hadn’t received the order to go into action immediately and reduced the turbines to rubble, the alien spaceships would probably have continued to fly unswervingly towards their destination. In that case Earth would probably be the colony of another planet by now. And then she too would not be standing here, dreaming of a better future.
Of course, she also knew that the future was really nothing but a beautiful dream for the time being. No one had the slightest idea where and how to dispose of the millions of tons of scrap metal left over from the wind turbines.
Maggie pulled her dressing gown tighter around her shoulders. The summer heat was over, in the morning it already cooled down noticeably. A light shiver ran over her skin. She had to think of the day after, of the morning when it gradually became clear that they had succeeded in fending off the attack on Earth. Hesitantly they had all crawled out of their bunkers and cellar holes into the daylight and had looked around carefully, fearing that a little green Martian might still be lurking somewhere.
Amazed, they had gazed at each other. The masks had fallen off their faces, everyone suddenly turned into what they were again. For a long time a strange shyness kept them from approaching each other – as if they were afraid of hurting the other if they came too close to the fragile shell of his being.
Never before had they felt the blood in their veins pulsating so intensely. From one second to the next they all regained control over their lives. Ashamed, they resumed their rights, like people who, after dancing naked in a public square, discover a photo of their excess in the newspaper.
It was a bit like after the war. There was wreckage everywhere, only a rotten skeleton was left from the former life. The outer world lay in ruins, just like the inner world. Everything had to be rebuilt. Life had to be learned anew. The future was an unwritten book again.
The sound of the garden door ripped Maggie out of her thoughts. It was Thilio. With a mumbled morning greeting he put his arm around her shoulders and sucked in the dew-damp air with her.
For a while they stood silently next to each other and listened to the morning concert of the crickets. Then Maggie mused: „An attack by alien warriors … I still can’t believe it! I thought this was only in the movies …“
Thilio buried his face in her curls, in which the fragrant breath of the wind had caught. „You’re right,“ he whispered, „it’s just unimaginable.“

Bildnachweise: Pixabay: Analogicus. Bussard; Nonmisvegliate: Berge

5 Kommentare

  1. Leider sieht es derzeit so aus, als ob sich die Menschen gegenwärtig gar nichts anderes mehr vorstellen könnten als Heimenross und StarWind. Ich habe mit vielen Menschen über die Verfassungswidrigkeit der Windkraft im Außenbereich diskutiert. Alle erkennen den Verfassungsverstoß sofort ganz klar, aber weil der kadohanische Mastenausbau nun schon jahrzehntelang läuft, glauben alle, dass es immer so weitergehen müsse, als ob die Regierung eine Art Gewohnheitsrecht hätte, das Grundgesetz mit Füßen zu treten. Es erinnert an die DDR, in der selbst diejenigen, die sich wir am Widerstand beteiligten, eine Veränderung erst dann vorstellen konnten, nachdem sie plötzlich und überraschend eingetreten war. Vgl. auch https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2020/08/24/ordnet-der-bundesprasident-die-im-grundgesetz-garantierten-werte-und-schutzguter-parteipolitischen-interessen-und-regierungspolitischen-zielen-unter/
    Zu dem Roman möchte ich bemerken, dass ich mir gewünscht hätte, dass er breiter angelegt und komplexer wäre, weniger filmisch und epischer. Aber vielleicht gibt es ja noch eine zweite Fassung für die, die niemals zufrieden sind. Anfangs schien er mir zu transparent, aber dann war ich doch immer wieder überrascht. Sehr gefallen hat mir die Leichtigkeit und Heiterkeit des Erzählens.

    Gefällt 2 Personen

  2. mich beeindruckt dein aufwand für deine posts. aber es ist für mich zu viel text. ich habe trotz lesebrille eine sehschwäche. ich brauche eine lupe für diesen text. entschuldige, aber ein interessantes blog.

    Gefällt 1 Person

      1. nutzt nichts, auch meine neuen lesebrillen nutzen nichts. immer öfter seh ich alles verschwommen bzw. doppelt. liegt am alter oder alkohol.

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