Zur Passung von Inhalt und Form in der Lyrik

Ilona Lay, Reichensteiner Poetik-Vorlesungen, 6. und letzter Teil

Die Freiheit der Kunst manifestiert sich in der Dichtung auch in der freien Entscheidung der Dichtenden über die jeweiligen Ausdrucksformen. Wichtig ist nur, dass es sich dabei um eine bewusste Entscheidung handelt, die genau abwägt, welche Form am besten zu den auszudrückenden Inhalten passt.

Das Konkrete und das Allgemeine in der Dichtung

Engagierte Dichtung: Das Beispiel Erich Fried

Dichtung als permanente Revolte

Nachweise

Das Konkrete und das Allgemeine in der Dichtung

Zum Abschluss dieser Vorlesungsreihe soll noch die Frage der thematischen Passung angesprochen werden: Können Themen, die uns heute beschäftigen, in lyrische Formen vergangener Zeiten gegossen werden? Müssen solche Formen nicht notwendigerweise die Inhalte affizieren und sie verzerren?
Auf diese Fragen gibt es mehrere Antworten. Zunächst einmal ließe sich darauf hinweisen, dass dieselben Fragen auch Hölderlin schon hätten gestellt werden können. Auch seine Dichtung zeichnete sich ja durch eine strukturelle Ungleichzeitigkeit aus, auch er spiegelte aktuelle geistige Entwicklungen in Formen wider, die weder für seine Sprache noch für seine Zeit geschaffen waren. Dennoch beugten sich später unzählige schlaue Menschen über seine Werke und suchten darin nach den Spuren des Geistes, der weht, wo er will – und dem wir hier auch ohne weiteres zugestehen, zu wehen, wie und wo er will.
Darüber hinaus müsste aber auch jeweils genauer definiert werden, was unter „aktuellen Fragen“ zu verstehen ist. Wenn damit ganz konkret das internationale Wettrüsten, das Problem des Populismus oder die Abholzung des Regenwaldes gemeint sind, wäre in der Tat schwer vorstellbar, dafür antike Versformen zu verwenden. Geht es dagegen um die hinter diesen Problemen stehenden allgemeinen psychologischen Triebkräfte – Aggression, Misstrauen, Machtwille, Verführung und Übervorteilung anderer, Lüge und Betrug, Habgier, Rücksichtslosigkeit … –, so kann hierfür durchaus auch auf scheinbar „unzeitgemäße“ Dichtungsformen zurückgegriffen werden.
Schließlich geht ja auch Hölderlin nicht unmittelbar auf die aktuellen politischen Entwicklungen seiner Zeit ein, sondern bewertet und deutet diese vor einem allgemein menschlichen bzw. geschichtlichen Hintergrund. Dies scheint auch sonst ein Wesensmerkmal von Lyrik zu sein: In der Regel geht sie zwar von einer ganz bestimmten subjektiven Gestimmtheit bzw. von klar umrissenen objektiven Geschehnissen aus, stellt diese jedoch im Zuge des dichterischen Aneignungsprozesses in einen allgemeineren Kontext. Verwandlung und Verfremdung sind und bleiben eben wesentliche Merkmale der Dichtung.

Engagierte Dichtung: Das Beispiel Erich Fried

Nun ist es grundsätzlich durchaus denkbar, dass ein Lyriker sich stärker und direkter in das aktuelle politische Geschehen einmischen möchte. Ein solches unmittelbares politisches Engagement mit Hilfe von Gedichten findet sich u.a. bei Erich Fried. So bezieht sich beispielsweise sein Gedicht Status quo (aus dem Band Lebensschatten, 1981) im Untertitel explizit auf die „Zeit des Wettrüstens“:

Wer will
dass die Welt
so bleibt
wie sie ist
will nicht
dass sie bleibt

Im Umkreis von Frieds Antikriegstexten steht auch das 1974 in dem Band Gegengift veröffentlichte Gedicht Angst und Zweifel:

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel

Beide Gedichte stehen durch das politische Engagement Frieds und den Verwendungskontext der Verse eindeutig im Zusammenhang des Kampfs gegen das nukleare Wettrüsten. In beiden Fällen haben die epigrammatischen Ausdrucksformen jedoch zur Folge, dass die Verse sich auch auf andere Zusammenhänge beziehen lassen.
Die Problematik einer selbstgefälligen, keinen Zweifel am eigenen Tun zulassenden Handlungsweise kann ebenso auf die Verdrängung aller Skrupel bei kriegerischen Aktivitäten wie auf die pharisäerhafte Verdammung jener, die sich nicht den überlieferten Glaubensdogmen oder dem tradierten Normenkanon einer Gesellschaft unterwerfen, bezogen werden. Und dass diejenigen, ‚die wollen, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, nicht wollen, dass sie bleibt‘, könnte man auch mit der fehlenden Bereitschaft, die Wachstumswirtschaft zu Gunsten einer nachhaltigeren, umweltschonenden Wirtschaftsweise zu transformieren, assoziieren.

Dichtung als permanente Revolte

Unabhängig davon, dass auch Frieds Gedichte damit in einem allgemeineren Bedeutungszusammenhang gesehen werden können, eignen sie sich doch eher für die Verwendung im Kontext eines konkreten politischen Engagements, als dies bei komplexeren Formen von Lyrik der Fall ist. Daraus ergibt sich nun allerdings kein Vorrang der einen vor den anderen dichterischen Ausdrucksformen. Es ist lediglich so, dass manche Formen dichterischen Sprechens sich für bestimmte Verwendungszwecke oder Redesituationen besser eignen als andere. Entscheidend ist deshalb, sich stets genau zu überlegen, welche dichterische Form sich jeweils am besten für das Auszudrückende eignet.
Dichtung hat immer etwas mit dem Willen zur Gestaltung der Sprache zu tun. Da die Sprache bestimmte Deutungs- und Wahrnehmungsmuster vorgibt und damit die Weltsicht in bestimmter Weise präformiert, geht demnach mit Dichtung immer auch der Wille zur Infragestellung und Verwandlung der herkömmlichen Sichtweisen einher. Und insofern die Sprache, wie Heidegger gesagt hat, „das Haus des Seins“ ist, strebt die auf die Verwandlung der Sprache abzielende Dichtung letztlich immer auch die Verwandlung des Seins und der Welt an. Jedes Gedicht ist damit eine kleine Revolution – oder zumindest eine Revolte gegen das So-Sein der Welt.
Wenn Dichtung an Form und Gestalt gebunden ist, bedeutet dies demzufolge gerade nicht, dass den Dichtenden dadurch ihre Freiheit genommen wird. Vielmehr manifestiert sich diese sowohl in dem gestalteten Ausdruckswillen selbst, also dem fertigen Gedicht, als auch in der souveränen Wahl der geeigneten Form. Hierin nämlich sind denen, die sich der lyrischen Sprache bedienen, keinerlei Grenzen auferlegt. Dichterische Formen können, wie bei Erich Fried, auf den politischen Kampf abzielen oder, wie bei Rainer Maria Rilke, zu Meditation und Versenkung in das Wesen des Seins einladen. Sie können, wie bei Friedrich Hölderlin, den Weg des Geistes durch die Geschichte reflektieren oder, wie bei Arno Holz, in impressionistischer Weise den erlebten Augenblick widerspiegeln.
All diesen Dichtungsformen ist indessen – so unterschiedlich sie auch sind – der Wille zur sprachlichen (Um-)Gestaltung der Welt gemeinsam. Dies gilt durchaus auch für Arno Holz: Seine Ablehnung der tradierten Formen von Dichtung bedeutete ja keinesfalls, dass er die dichterische Form an sich ablehnte. Nur suchte er eben nach neuen Gestaltungsmöglichkeiten, durch die sein eigener dichterischer Ausdruckswille sich besser entfalten konnte. Die abnehmende Überzeugungskraft seiner späteren Gedichte beruhte denn auch gerade darauf, dass er die eigene, selbst gewählte Form mehr und mehr missachtete.

Nachweise

Die Gedichte von Erich Fried werden zitiert nach

Erich Fried: Gesammelte Werke in vier Bänden, herausgegeben von Volker Kaukoreit und Erich Wagenbach, Bd. 2: Gedichte 2. Berlin 1993: Wagenbach; zitierte Gedichte: S. 202 (Angst und Zweifel) und 523 (Status quo).

Bildnachweis: Jan Stieding: Geist (2012); Wikimedia commons


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