Wahlen im Jahr 2022 – Die nationale Bühne

Jahresrückblick 2022: Wahlen 1

Im vergangenen Jahr hat es sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene eine Reihe von Wahlen gegeben. Bei den Wahlen in Deutschland sticht dabei vor allem eines ins Auge: die um sich selbst kreisende bürgerliche Mitte.

Das hippe Image der Grünen

In Deutschland hat es 2022 vier Landtagswahlen gegeben. Dabei gab es für die SPD nach dem Erringen der absoluten Mehrheit im Saarland bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen ein böses Erwachen. In beiden Bundesländern fuhr die Partei ein historisch schlechtes Ergebnis ein. In Niedersachsen musste sie zwar auch Verluste hinnehmen, kann die Koalitionsregierung mit den Grünen jedoch fortsetzen.

Außer im Saarland, wo der Landesverband seit Jahren durch interne Streitigkeiten gelähmt ist, konnten die Grünen bei allen Landtagswahlen stark zulegen. Der Grund dafür ist nicht zuletzt ein Imageproblem der Altparteien.

Egal ob SPD, CDU oder FDP: Wer dort das Sagen hat, riecht immer verdächtig nach alter Bundesrepublik. Das Spitzenpersonal changiert in seiner Ausstrahlung zwischen Bankberater, Versicherungsvertreter und Gewerkschaftsfunktionär. Das weckt nicht den Eindruck von Aufbruch und Erneuerung, sondern müffelt eher nach einem technokratischen „Weiter so!“

Unabhängig davon gibt es in zentralen Fragen einen breiten parteiübergreifenden Konsens – anders wäre das größtenteils geräuschlose Funktionieren der diversen Koalitionen in Bund und Ländern auch kaum möglich.

Was die Grünen für viele Wahlberechtigte so attraktiv macht, ist also nicht ihre faktische, sondern ihre scheinbare Distanz zum politischen Establishment. Angesichts der verstaubten Ausstrahlung der Uralt-Parteien wirken die Enkel der 68er-Generation heute eben schon wie hippe Jungspunde – auch wenn sie im Politikbetrieb längst wie alte Hasen agieren.

Wie Volksparteien die Demokratie untergraben können

Je erfolgreicher die Grünen werden, desto mehr folgen sie dem Reflex der Altparteien und vertreten den Anspruch, eine Partei des ganzen Volkes zu sein.

Dieser Anspruch ist allerdings mit zwei Problemen verbunden: Zum einen ist „Volk“ bei den Volksparteien vor allem ein Synonym für die bürgerliche Mitte. Die Interessen von sozial unterprivilegierten Gruppen spielen bei ihnen eine untergeordnete Rolle. Und zum anderen entwickeln sich Volksparteien rasch zu einem Gemischtwarenladen, der für alles und nichts steht.

Die Folgen eines solchen Anspruchs, eine Partei für alle zu bilden, lassen sich gut in Frankreich beobachten. Emmanuel Macrons programmatisches Versprechen, als Brückenbauer zwischen linken und rechten Positionen zu fungieren, hat zwar zu einer Pulverisierung der traditionell dort verankerten Parteien geführt. Die Folge war jedoch nicht eine Überwindung, sondern gerade eine Zuspitzung der politischen Polarisierung, da sich die Menschen unter diesen Bedingungen verstärkt den radikaleren Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums zugewandt haben.

Die linke Flanke: eine Leerstelle in der deutschen Politik

In Deutschland hat sich zwar auf der äußersten rechten Seite des politischen Spektrums mit der AfD eine neue Partei etabliert. Die linke Flanke ist jedoch  vielerorts verwaist.

Die Linkspartei beschäftigt sich auf Bundesebene, so scheint es, vor allem mit sich selbst und irrlichtert ankerlos zwischen putinverstehenden Altstalinisten und einer undogmatisch-menschenrechtsbasierten linken Politik. Wo sie auf Landesebene politische Verantwortung übernimmt, passt sie sich – wie beim Windkraftausbau – weitgehend an die Positionen der etablierten Parteien an. Das politische Spiel hat sich also komplett in die Mitte verlagert.

Was wir bräuchten, wäre daher eine politische Alternative, die linke Politik konsequent, aber ohne ideologische Scheuklappen vertreten würde. Eine Partei, die nicht auf die Idee käme, den Naturschutz dem Klimaschutz zu opfern, sondern Letzteren über einen konsequent anderen Umgang mit der Umwelt umsetzen würde. Eine Partei, kurz gesagt, die für einen ganz anderen, nachhaltigeren, nicht um den Fetisch „Konsum“ kreisenden Gesellschaftsentwurf stünde.

Die Sperrklausel: ein Mittel zur Zementierung des politischen Stillstands

Dass es eine solche Partei nicht gibt, hat zwei Gründe: Zum einen hätte in der Heimat des deutschen Michels der Ruf nach radikaler Veränderung wohl eher abschreckende Wirkung. Und zum anderen ist die Fünf-Prozent-Hürde nun einmal ein äußerst wirksamer Schutzwall für die bürgerliche Mitte, die sich so gegen jede Neuerung abschirmen kann.

Im Saarland war die Sperrklausel sogar der Grund dafür, dass die SPD bei den Landtagswahlen im Frühjahr die absolute Mehrheit erringen konnte. Nur weil sowohl die Grünen als auch die FDP denkbar knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind, reichten der SPD 43,5 Prozent zur absoluten Mehrheit.

Bei Bundestagswahlen hat die Sperrklausel zur Folge, dass die Stimmen von rund 3 Millionen Wahlberechtigten einfach in der Mülltonne landen. Ihnen wird noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, beispielsweise mit einer Ersatzstimme eine Partei zu bestimmen, auf die sie in einem solchen Fall ihre Stimme übertragen würden.

Die daraus resultierende Benachteiligung der kleineren Parteien führt zudem dazu, dass diese schon im Vorfeld der Wahlen weniger Beachtung bekommen. Die geringere Beachtung durch die Wahlberechtigten – die um die Nichtberücksichtigung ihrer Stimme fürchten – potenziert sich dabei durch die geringere Vertretung kleiner und vor allem neuer Parteien in den Medien.

Deutsche Schaufensterdemokratie

Diese strukturelle Verhinderung echter Innovation im Parteienspektrum ist der eigentliche Skandal in unserem Wahlsystem. Die Unregelmäßigkeiten, die es bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Herbst 2021 gegeben hat, fallen im Vergleich dazu kaum ins Gewicht.

Der untaugliche Versuch, die Wahlpannen durch eine Wahlwiederholung – die de facto eine Neuwahl unter gänzlich anderen Vorzeichen sein wird – zu beheben, offenbart daher vor allem eines: Wichtig ist allein der Anschein einer funktionierenden Demokratie. Echte demokratische Mitbestimmungsrechte spielen dagegen eine untergeordnete Rolle.

Ausführliche Beiträge zum Thema

Genosse Zufall als Königsmacher für die Genossen. Ein Kommentar zu den Wahlen im Saarland.

Politische Einheitskost. Ein Kommentar zu den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen.

Ein Pyrrhussieg der Demokratie. Zur Entscheidung für eine Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus.

Macron und die Schlupfwespe. Wie ein Investmentbanker zum Sargnagel der französischen Volksparteien werden konnte.

Bild: Michael Schwarzenberger. Wahlen (Pixabay)

Ein Kommentar

  1. Das sind sehr nachdenkenswerte Punkte!- Sarah Wagenknecht versuchte ja in den letzten Jahren, genau auf dieses Problem, nämlich dass ökonomisch benachteiligte Menschen von der Politik vergessen werden, aufzugreifen. Aber leider hat sie sich immer mehr in einem seltsamen Populismus verstrickt. Vielleicht ist „echte Mitbestimmung“ hier ein Zauberwort … Aber ein Beginn wäre schon die Weitung des Blickes der verantwortlichen Politiker in Richtung soziale Realität und Vielfalt.

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