Vive la révolution!(?)

Die Gelbwesten-Bewegung: Sieg oder Sackgasse?

Gilet Jaunesänd

Vor einem Jahr hat in Frankreich die Bewegung der Gelbwesten („gilets jaunes“) ihren Anfang genommen. Dazu eine kurze Bilanz und eine Miniatur, die das Geschehen aus einer verfremdenden Perspektive in den Blick nimmt.

 INHALT:

Aufstand gegen die Arroganz der Macht
Macrons Reaktion: Zuckerbrot ……
… und Peitsche: Verletzte und Tote durch Polizeigewalt
Machterhalt um jeden Preis
Links

Miniatur

Aufstand gegen die Arroganz der Macht

Vor einem Jahr hat in Frankreich die Bewegung der Gelbwesten („gilets jaunes“) ihren Anfang genommen. Auslöser waren damals die geplanten Steuererhöhungen auf Benzin und Heizöl.
Anfangs war es vor allem ein Aufstand des ländlichen Frankreichs, wo die Menschen mit ihren altersschwachen Häusern und dem rudimentären Nahverkehr besonders stark von den Maßnahmen betroffen waren. Gleich zu Beginn der Proteste ist jedoch deutlich geworden, dass der eigentliche Grund für die Demonstrationen tiefer liegt. Je länger die Proteste anhielten, desto mehr richteten sie sich allgemein gegen soziale Schieflagen und einen Mangel an demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten, wie man sie in Emmanuel Macron, dem Kandidaten der gesellschaftlichen Eliten, symbolisiert sah.
Auf den Punkt gebracht hat diese revolutionäre Stimmungslage damals François Ruffin, ein Abgeordneter der Partei La France Insoumise („Das unbeugsame Frankreich“), indem er einen unmittelbaren Bezug zur Französischen Revolution herstellte. Am 24. November 2018 erinnerte er in einem Tweet daran, dass vor der Französischen Revolution die Verachtung Marie Antoinettes, der Gattin Ludwig XVI., gegenüber den Armen mit dem ihr in den Mund gelegten Ausspruch karikiert worden ist: „Ihr könnt euch kein Brot leisten? Dann kauft euch doch Kuchen [brioche]!“ Genauso handle jetzt auch Präsident Macron, dessen Politik auf die Formel hinauslaufe: „Ihr könnt euch kein Benzin leisten? Dann kauft euch doch ein neues Auto! Ihr könnt euch kein Heizöl leisten? Dann kauft euch doch eine neue Heizung!“
Diese Entschlossenheit, diese Bereitschaft, jede Ungerechtigkeit mit dem Ruf nach der Revolution zu beantworten, hat für einen Deutschen etwas Faszinierendes. Während wir noch immer vom wilhelminischen Untertanengeist geprägt sind, liegt unseren Nachbarn jenseits der Grenze die Revolution im Blut. Und weil die Regierenden wissen, wozu das führen kann, gehen sie in der Regel auch einen Schritt auf die Protestierenden zu.

Macrons Reaktion: Zuckerbrot …

So sind auch im Fall der Gelbwesten-Proteste die geplanten Steuererhöhungen zurückgenommen worden. Und nicht nur das: Nach wochenlangem Schweigen hat Präsident Macron in einer Fernsehansprache ein 10 Milliarden Euro schweres Programm verkündet, das den Ärmsten im Land zugute kommen sollte. Neben einer steuerfinanzierten Anhebung des Mindestlohns sah es u.a. eine Steuerbefreiung für Überstunden und eine Besserstellung von Menschen mit geringen Renten vor. Für das Frühjahr 2019 setzte Macron zudem einen „grand débat“ an, eine große nationale Debatte über die Zukunft des Landes, bei der in unzähligen regionalen Gesprächskreisen über Probleme des Staates und Verbesserungsvorschläge der BürgerInnen diskutiert werden sollte.
Also Erfolg auf der ganzen Linie? Ein triumphaler Sieg der Gelbwesten, die das Land gerechter und die Entscheidungsprozesse transparenter gemacht haben? Nicht ganz. Zunächst einmal war Macrons Sozialpaket, so üppig es auf den ersten Blick auch wirkt, in vielem doch eine Mogelpackung. Einige Gunsterweise, die darin enthalten sind, waren ohnehin schon angekündigt worden. Andere relativieren sich durch die tiefen Einschnitte in das Sozialsystem – insbesondere beim Renteneintrittsalter und der Arbeitslosenunterstützung –, die die Regierung noch im Köcher hat.
Vor diesem Hintergrund war auch der „grand débat national“ in erster Linie eine gewaltige Kampagne zur Aufpolierung des Images von Macron und seinem Team. Wo der Präsident daran teilnahm, hatte er stets das letzte Wort, mit dem er handstreichartig die Argumente der Kritiker entkräftete. Dies entsprach auch dem Geist, aus dem heraus die „große nationale Debatte“ angekündigt worden war. Macron wollte damit keineswegs seine Politik auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen. Worum es ihm ging, war vielmehr, seine Agenda besser zu „kommunizieren“ (1).
Das Ziel war also schlicht ein „Mehr desselben“. Angestrebt wurde nicht eine Kommunikation mit dem Volk, sondern ein Erklär- und Beschwichtigungsprogramm, das den begriffsstutzigen Millionen die Genialität des großen Führers vor Augen führen sollte. Was nach einem Nachgeben der Regierung aussah, war also in Wahrheit nur eine Vorbereitung der nächsten Einschnitte ins soziale Netz.

… und Peitsche: Verletzte und Tote durch Polizeigewalt

Hinzu kommt, dass die Gelbwesten-Proteste schon bald auch mit gewalttätigen Ausschreitungen einhergingen – und zwar sowohl von Seiten der Demonstrierenden als auch von Seiten der Ordnungshüter. Die Ziele der Gewalt unterschieden sich allerdings grundlegend voneinander. Die Gewalt, die von den „gilets jaunes“ ausging, richtete sich überwiegend gegen nationale Symbole und Insignien materiellen Reichtums, von dem sie selbst ausgeschlossen waren – also etwa gegen Limousinen und Schaufenster von Luxusgeschäften. Die Polizeigewalt richtete sich dagegen gegen Menschen. Durch Gummigeschosse, Blend- und Tränengasgranaten wurden über hundert Menschen schwer verletzt. Einigen mussten Hände amputiert werden, andere verloren ihr Augenlicht. Sogar Tote hat es gegeben (2).
Während der Präsident sich also in der großen nationalen Debatte als Versöhner inszenierte, hetzte er gleichzeitig das Volk gegen das Volk auf. Die sarkastische Pointe des Ganzen: Die Überstunden, die die Polizei infolge der Gelbwesten-Demonstrationen leisten musste, sind bis heute nicht kompensiert worden. So fühlt sich nun auch dieser Teil des Volkes betrogen (3).

Machterhalt um jeden Preis

Was bleibt, ist die Hoffnung, der Präsident könnte sich durch den sozialen Aufstand in seiner neoliberalen Agenda Mäßigung auferlegen. Wer allerdings die selbstgefällige Attitüde Macrons beobachtet, seine Vorliebe für Pomp und die fast schon royalistische Selbstinszenierung, wird dieser Hoffnung doch mit einer gewissen Skepsis begegnen.
Ein Beleg dafür ist die soziale Kälte, die der Präsident aktuell im Umgang mit MigrantInnen an den Tag legt. So wird derzeit diskutiert, die medizinische Versorgung der Sans-Papiers, also der Flüchtlinge ohne regulären Aufenthaltsstatus, einzuschränken – obwohl laut Aussagen der Hilfsorganisation Ärzte der Welt schon jetzt ein beträchtlicher Teil der insgesamt ca. 318.000 Anspruchsberechtigten de facto gar nicht von dem Unterstützungssystem profitiert (4). Grund für die Maßnahme ist offenbar der Wunsch, der Rechtsaußen-Konkurrenz vom Rassemblement National (früher „Front National“) um Marine Le Pen den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Das Hauptmotiv der Politik des Präsidenten ist demnach der Machterhalt. Wenn er dafür soziale Wohltaten verteilen muss, teilt er eben ein paar Brosamen an die Armen aus. Ist ihm das Gegenteil dienlich, so zögert er auch nicht, zum sozialen Kahlschlag auszuholen.

Links

Miniatur

Zur Gelbwesten-Bewegung habe ich seinerzeit eine Miniatur verfasst, die bislang unveröffentlicht geblieben ist. Zum Jahrestag der Bewegung entlasse ich den Text nun in die Freiheit.

Gelbwesten

Viel zu lange hattet ihr vor dem Palast des Königs ausgeharrt, immer in der Hoffnung, er werde irgendwann ein Fenster öffnen und Brot und Wärme aus seinem Zepter auf euch niederregnen lassen. Viel zu lange habt ihr euch mit stummen Gebeten, mit Träumen und frommen Wünschen begnügt.
Jetzt, endlich, habt ihr die Fenster nicht mehr nur ohnmächtig angeschaut. Als irgendeiner von euch einen Stein aufgehoben und ihn gegen den Palast geschleudert hat, hast auch du nicht lange gezögert, es ihm gleichzutun. Du warst nur noch ein Tropfen in einer großen, unwiderstehlichen Welle, die auf den Palast zurollte. Gewiss hätte sie ihn unter sich begraben, wenn der König nicht im letzten Moment ein unscheinbares Küchenfenster geöffnet hätte.
Während die Welle rhythmisch gegen die Palastmauern brandete, entdeckte der König auf einmal die Liebe zu seinem Volk. Ja, bekannte er, auch das Volk habe ein Recht auf Brot. Auch das Volk dürfe im Warmen sitzen, wenn natürlich auch nicht in so behaglichen Gemächern wie er, der König, und seine Getreuen, die sich so aufopferungsvoll um das große Ganze kümmerten. Deshalb erkläre er hiermit in seiner unendlichen Güte, dass ab sofort auch das Wohlergehen des Volkes zum Staatsziel erhoben werde.
Wie ein heftiger Regenschauer waren die Worte des Königs auf eure Welle niedergegangen. Auf einmal war der rhythmische Schwung, der euch eben noch alle in sich aufgenommen hatte, dahin. An manchen Stellen wogte die Welle zwar noch weiter wie bisher. An anderen aber zerfiel sie zu spritzender Gischt, die sich rasch zu einem ruhigen Plätschern abschwächte.
Auch du selbst warst uneins mit dir. War es nun ein Erfolg, dass der König ein Fenster – wenn auch nur ein ganz kleines – geöffnet hatte? Oder war das erst der Anfang? Musste man das geöffnete Fenster nutzen, um in den Palast einzudringen? Waren die Worte des Königs womöglich nur eine unsichtbare Barrikade, die er vor den innersten Gemächern seines Palastes errichtet hatte?
Wie auch immer: Das Gefühl der wogenden Einheit war dahin. Auf einmal fühltest du dich nur noch wie ein Tropfen, den jemand in einer viel zu weiten Ebene ausgesetzt hatte, zusammen mit unzähligen anderen Tropfen, die sich ebenso verloren vorkamen wie du selbst.
Verwirrt machst du dich auf den Heimweg. Am Ende des großen Platzes, auf dem der König sonst die Huldigungen seines Volkes entgegenzunehmen pflegt, stößt dein Fuß gegen etwas Weiches, Unförmiges. Vielleicht ein Abfallhaufen, denkst du, oder ein paar von den Decken, mit denen ihr euch gegen die nächtliche Kälte gewappnet habt. Als du dich aber nach unten beugst, blickst du in weit geöffnete Augen, die starr an dir vorbeisehen. Der, der hier liegt, würde nichts mehr mit den Brosamen anfangen können, die der König über euch ausgeschüttet hat.
Bitter erkennst du: Der Kampf um Brot hat dazu geführt, dass einige nie mehr Brot werden essen können. Fragen stürmen auf dich ein: War es das wert? Hättest du dich auch dann von der Welle mitreißen lassen, wenn du gewusst hättest, dass sie Menschenopfer fordern würde, um den König zu einer Verbeugung vor euch zu zwingen? Und warum hatte überhaupt erst eine solche Tod bringende Welle ihn dazu gebracht, ein Fenster seines Palastes zu öffnen? Warum hatte er zuvor noch nicht einmal Notiz genommen von euch?
Du bist zu aufgewühlt, um Antworten auf die Fragen zu finden. Stattdessen spürst du, wie das unruhige Meer in dir dich wieder zum Palast zurücktreibt. Der Tropfen, der du warst, ist zum Funken geworden. Sobald er auf die anderen Gluttropfen trifft, wird er sich mit ihnen zu einem Feuersturm vermählen, der alles zermalmen wird, was sich ihm in den Weg stellt.

 

Bild: Wandfresco von Pascal Boyart in Paris: Gelbwesten (leicht verändert)

5 Kommentare

  1. „Die organisierten Freunde des Landlebens ohne ästhetische Störungen sind Deutschlands Gelbwesten“, schreibt DER SPIEGEL: „Ein einzelnes, kreiselndes Windrad zum Beispiel kann einer einschlägigen Website zufolge ‚Familien ruinieren‘ und deren ‚Lebensleistung zerstören‘, weil es, aufgestellt im 90-Grad-Winkel in 400 Meter Abstand, die Aussicht stören könnte.“ (https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/windkraft-die-neuen-regularien-sind-ein-sargnagel-fuer-deutschland-a-1296494.html)
    Und hier ist der Link zu der einschlägigen Gelbwesten-Website: https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/11/07/wie-die-windkraft-familien-ins-ungluck-sturzt/
    Ah ben oui, mon cher baron, les gilets jaunes de l’Allemagne, c’est nous.

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber René, ich gratuliere dir herzlich zur Erwähnung im Spiegel….Und: Es spricht doch einiges für deine These! Natur und Land müssen gegen städtische Technokraten ohne Lebens- und Naturbezug verteidigt werden.

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