Unter allen Zipfeln ist Ruh

Der Mundschutz ist offenbar doch ein Maulkorb

Die Schutzmaskenpflicht entwickelt sich zum neuen Verbots-Hit im regelverliebten Deutschland: Ohne Mundschutz betreten verboten! Ob der geschwächte Organismus unserer Demokratie wohl die Kraft finden wird, Antikörper gegen diese obrigkeitsstaatliche Aufwallung zu bilden?

Mundtote Kritiker
Mimik als verzichtbarer Luxus
China und Südkorea als Vorbilder?
Schutzmaskenpflicht und Verschwörungstheorien
Der eine Autoritarismus stärkt den anderen
Nachweise

Mundtote Kritiker

Noch vor wenigen Wochen ist über die Mundschutzpflicht kontrovers diskutiert worden. So gab es etwa Anfang April im Spiegel einen Artikel, der ausführlich das Pro und Contra einer solchen Maßnahme beleuchtet hat (1). Nicht zuletzt kam dabei auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu Wort, die eine generelle, nicht situationsabhängige Schutzmaskenpflicht dezidiert abgelehnt hat. Diese verleite zu einem trügerischen Gefühl von Sicherheit, wodurch die wichtigeren Abstandsregeln und die Hygieneempfehlungen weniger konsequent befolgt würden (2).
Jetzt, vier Wochen nach Einführung einer (fast) bundesweiten Schutzmaskenpflicht in Geschäften und ÖPNV, lässt sich resümieren: Die WHO hatte Recht. Ein Blick in eine beliebige deutsche Einkaufsmeile reicht, um die neue Devise des Handelns auszumachen: Abstand war gestern – heute haben wir ja den Mundschutz!
Häufig zu beobachten ist auch die Praxis, den Mundschutz unters Kinn zu klemmen und erst beim Betreten der Läden wieder über Mund und Nase zu ziehen. Die Schutzmaske führt so zu einer häufigeren Berührung des Gesichts, was die Ansteckungsgefahr erhöht. Auch davor war im Vorfeld der Einführung einer allgemeinen Schutzmaskenpflicht gewarnt worden.
So wäre eigentlich eine Zunahme kritischer Berichte über die Mundschutzpflicht zu erwarten. Aber weit gefehlt. Wer heute zur Mund-Nase-Bedeckung recherchiert, findet vor allem eines: Bastelanleitungen für Schutzmasken.
Was ist passiert? Gibt es etwa neue wissenschaftliche Studien zum Thema? Ist gar die Wirksamkeit einer allgemeinen Mundschutzpflicht mittlerweile nachgewiesen worden? Nein, keineswegs. Die Zäsur zwischen Anfang April und Mitte Mai bildet vielmehr ganz allein die politische Entscheidung, den Mundschutz in Geschäften und ÖPNV verpflichtend zu machen.

Mimik als verzichtbarer Luxus

Die Einführung der generellen Mundschutzpflicht ging einher mit einer Lockerung der Ausgangs- und Öffnungsbeschränkungen. Sie erscheint so als eine Konzession an die Wirtschaft: Gut, wir lassen euch wieder euren Geschäften nachgehen. Dafür muss sich aber jeder eine Schutzmaske aufsetzen, damit wir weiter unsere Entschlossenheit in der Bekämpfung des Virus unter Beweis stellen können.
Dementsprechend wird nun ein Alltag mit Schutzmaske als neue Normalität hingestellt. Politiker lassen sich damit ablichten, die Maske wird als „schick“ verkauft, indem sie mit coolen Bildchen versehen wird, Facebook-Porträts verwandeln sich in OP-Bilder. Und alle reden von sukzessiven Öffnungsmaßnahmen, von einer allmählichen Rückkehr in den Alltag – mit zugenähtem Gesicht, versteht sich.
Seltsam – gestern noch wurden muslimische Frauen mit Gesichtsschleier als Zumutung für jeden aufrechten Demokraten verteufelt. Niqab-Trägerinnen, so war die einhellige Meinung, entzögen sich durch das Verbergen ihrer Mimik einer offenen Kommunikation. Auch für die Schule hieß es: Pädagogik braucht ein offenes Gesicht. Gesichtsschleier? Pfui Teufel!
Jetzt aber soll es auf einmal ganz normal sein, sich mit erstarrtem Gesicht gegenüberzustehen. Fehlende mimische Signale in der Schule? Na und? Um den Stoff für die nächste Klassenarbeit auswendig zu lernen, müssen die Kinder doch die Gesichtszüge der Lehrerin nicht sehen können!

China und Südkorea als Vorbilder?

Wenn heute jemand Unbehagen angesichts einer möglichen Verstetigung der Schutzmaskenpflicht empfindet, sagt man ihm: Was willst du denn? In China und Südkorea ist das ganz normal. Wir in Europa müssen uns einfach erst noch daran gewöhnen!
Sorry – aber genau das ist doch das Problem! In China und Südkorea werden Schutzmasken deshalb leichter akzeptiert, weil beide Länder stark im konfuzianischen Denken verwurzelt sind. In diesem steht das Kollektiv grundsätzlich über dem Individuum. Die Einzelnen haben sich dem großen Ganzen unterzuordnen.
In China ist die konfuzianistische Achtung vor Älteren und Autoritäten längst zu einem rabiaten Totalitarismus entartet, der das Verhalten der Bürger auf der Basis eines Sozialpunktesystems bewertet und ggf. sanktioniert. Auch Südkorea war lange diktatorisch regiert. Noch heute bestimmen einige wenige Familienunternehmen, die so genannten „Chaebols“ bzw. „Jaebeols“, weitgehend die Geschicke des Landes. Auf der Seite der Beschäftigten entspricht dem ein strenges Arbeitsethos, das die Bedürfnisse des Betriebes grundsätzlich über die des Einzelnen stellt.
Wer in Shareholder-Value-Kategorien denkt, mag derartige Verhältnisse verlockend finden. Für diejenigen, die das Fließband des Kapitalismus am Laufen halten, dürften südkoreanische oder gar chinesische Verhältnisse aber keineswegs eine Traumvorstellung sein.

Schutzmaskenpflicht und Verschwörungstheorien

Manch einer wird an dieser Stelle wohl Verschwörungstheorien wittern. In der Tat ist zu betonen, dass die Nutzbarkeit der Schutzmaskenpflicht für eine Schwarze Pädagogik oder eine schleichende Entmündigung der Bürger nur vorhandene Tendenzen verstärkt. Und natürlich hat sich auch niemand in einem finsteren Hinterzimmer mit anderen an einen Tisch gesetzt und die Mundschutzpflicht mit exakt diesen fiesen Zielen ausgeheckt.
Auf der anderen Seite ist die Politik aber selbst nicht ganz unschuldig an den Verschwörungstheorien, deren verstärktes Aufkommen sie nun lauthals beklagt. Ihr eigenes inkonsistentes Handeln und fast schon ostentatives Missachten wissenschaftlicher Erkenntnisse bilden einen idealen Nährboden für Verschwörungstheorien aller Art. Eben weil für viele politische Maßnahmen derzeit keine rationalen Gründe anzugeben sind, schießen immer mehr irrationale Erklärungsmuster aus dem Boden.
Mitunter entspricht das politische Handeln sogar selbst der Logik von Verschwörungstheorien. Dies ist etwa der Fall, wenn diejenigen öffentlich an den Pranger gestellt werden, die sich den teilweise willkürlichen politischen Anordnungen zur Bekämpfung der Pandemie widersetzen. So hat etwa der österreichische ÖVP-Innenminister Karl Nehammer ein Video ins Netz gestellt, das Menschen mit regelkonformem und regelwidrigem Verhalten im einen Fall als „Lebensretter“ und im anderen als „Lebensgefährder“ betitelt (3).
Derartige Diffamierungen anderer als „Volksschädlinge“ wurzeln letztlich in dem Brunnenvergiftungsdenken, das in Europa eine ebenso lange wie unselige Tradition hat: Wer ist schuld an der Pest? Die Juden, denn sie haben die Brunnen vergiftet! Wer ist schuld an der Ausbreitung von Corona? Dieser Bürger auf dem Foto da, weil er sich nicht regelkonform verhalten hat!

Der eine Autoritarismus stärkt den anderen

Wenn man sich vor Augen führt, welche verheerenden Folgen ein solches Sündenbock-Denken vor nicht allzu langer Zeit auf deutschem (und auch auf österreichischem) Boden gehabt hat, kann die Antwort darauf nur lauten: Wehret den Anfängen! Kein neuer Totalitarismus auf deutsch-österreichischem Boden!
Die derzeitige Entwicklung weist aber leider in die entgegengesetzte Richtung. Politische Opposition gegen die Schutzmaskenpflicht? Fehlanzeige! Kritische Berichte in den Medien? Muss man mit der Lupe suchen. Ziviler Widerstand gegen die Maßnahme? Ein kreativer Umgang mit der Maskenpflicht, etwa durch Abholungs- oder Liefervereinbarungen mit der Kundschaft, die einen Mundschutz entbehrlich machen? Gibt es hauptsächlich in Ostdeutschland. Denn dort ist die Erinnerung an den Totalitarismus noch frisch. Dort hat man noch ein feines Sensorium für das Aufkommen autoritärer Tendenzen.
So spielt die politische Einheitsfront für die Schutzmaskenpflicht mal wieder dem äußersten rechten Rand in die Hände. Dort reiben sich ein paar skrupellose Einpeitscher die Hände, weil sie mal wieder ein diffuses Unbehagen in der Gesellschaft für ihre Ziele nutzen können. Diese Ziele aber sind nicht weniger autoritär als die Tendenzen, die durch die generelle Mundschutzpflicht gefördert werden. Die Demokratie wird damit derzeit gleich von zwei Seiten in die Zange genommen. Auch sie könnte durch die Corona-Pandemie am Ende auf der Intensivstation landen.

Nachweise

(1) Götze, Susanne / Kieselbach, Janne: Schutzmasken in der Corona-Krise: Tragen oder nicht tragen? Der Spiegel, 2. April 2020.
(2) World Health Organization: Coronavirus disease (COVID-19) advice for the public: When and how to use masks.
(3) ntv.de / dpa: Keine Maske, kein Abstand: Kurz sorgt mit „Corona-Party“ für Ärger. 14. Mai 2020.

 

Bilder: Pexels: Mann ohne Gedicht; Gerd Altmann: Wolkenmann; Gerd Altmann: gesichtslose Frau (Pixabay)

10 Kommentare

  1. In einer wahrhaftig liberalen Demokratie bliebe es dem Bürger überlassen, wie und ob er sich schützt. Empfehlungen statt Pflichten. Für alle, die zu Risikogruppen gehören oder ein erhöhtes persönliches Sicherheitsbedürfnis haben, dann bitte aber gleich genügend FFP2 oder FFP3 bereithalten – nur diese Masken schützen tatsächlich. Die anderen Stofffetzen sind Mummenschanz. Volkstheater. Symbolpolitik. (für einige vielleicht auch Statussymbol und Modeartikel – es tauchen bereits die ersten mit Louis Vuitton- oder Burberry-Muster auf)

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    1. Wenn es dem Bürger überlassen bliebe, dann bitte aber auch mit allen Konsequenzen, nämlich einem Verzicht auf medizinische Hilfe. Unendlich viele Risikopatienten sind nämlich im Gesundheitssektor beschäftigt und werden nicht einfach so freigestellt wie risikobehaftete Lehrer. Mal ganz abgesehen davon, dass das Gesundheitssystem zusammenbrechen würde, würden sie alle kündigen. Diese Menschen müssen dann die mangelnde Bereitschaft zu Einschränkungen der „freien Bürger“ mit ihrem Leben bezahlen, denn je mehr Infektionen desto mehr Tote im Gesundheitssektor. Übrigens: 11 % aller Covid 19 Patienten sind Ärzte und Pflegende und mindestens 60 von ihnen starben bereits daran. Reicht das nicht, um in jedem anständigen Menschen die Bereitschaft zu erzeugen, sich auch ein wenig einzuschränken? Maske (natürlich sinnvoll benutzt und mit Abstand) gegen das Leben, von Menschen, die im Notfall auch für dich da wären? Die, obwohl sie Risikopatienten sind, das Gesundheitssystem aufrecht erhalten? Ist das wirklich zuviel verlangt? Ein bisschen weniger Egoismus, ein bisschen Denken an die, die auch Menschen und nicht nur Ressource sind, und dafür kein zynischer Applaus vom Balkon aus auf dem Weg ins Grab und kein Merci als sadistische Henkersmahlzeit! Vielen Dank sagt eine Ärztin und Hochrisikopatientin.

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      1. Dem stimme ich zu. Vor allem der verlogenen Applaus ist schrecklich. Die Arbeitsbedingungen hätten schon lange verbessert werden müssen, die Bezahlung auch. Aber Applaus und warme Worte sind billiger. Zur Maskenpflicht: Leider begreifen viele Menschen nicht, dass irgendein Stofffetzen vor dem Gesicht nun nicht alle Vorsichtsmaßnahmen (Abstand, Hygiene, keine Großgruppen) überflüssig macht. Was man beobachtet: Die Maske hängt unterm Kinn,, wird rauf und runter gezogen, es wird sich ins Gesicht gefasst, mit den kontaminierten Fingern greift man/frau Waren an…. Abstand war gestern. Die Masken werden vermehrt, wenn sie stören, einfach gebraucht ins Gebüsch geworfen. An der Tankstelle und auch sonst wird einem wieder auf die Pelle gerückt … Maske ja, wo sie erforderlich ist und dann richtig angewandt und nicht als Verkleidung und „Freifahrtsschein“. Die Entsorgung muss geklärt werden! Mit dieser Regelung kontakariert man die bisherigen Anstrengungen und erschwert den Alltag. Besser wäre ein umfassender Schutz des medizinischen Personals (sowie Gehaltsanpassungen, die überfällig sind), Beschränkungen von Menschenansammlungen, Abstand und eine differenzierte Abwägung ….

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      2. LIebes Pürzelchen,
        Dein Beitrag trägt den Titel „Die Falschen gehen auf die Straße“.
        Wie unterscheidest Du die Falschen und die Richtigen?
        Wie können wir eine (demokratische?) Ordnung herstellen, in der die Straßen den Richtigen gehört und ausschließlich diesen?
        Da Du offenbar eine Tierfreundin bist, bitte ich Dich, „meine“ Petition zu unterschreiben: http://chng.it/2tCpBnTH
        Und damit Du nicht denkst, dass ich und meine Schäferhündin zu den Falschen gehöre: Wir gehen nicht auf die Straße, sondern in den Wald oder an den Strand – ohne Mundschutz und ohne Maulkorb: https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2020/04/26/die-letzten-schonen-tage-der-demokratie/
        Viele Grüße
        Dein René

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  2. Vielen Dank für diesen lesenswerten und ausgewogenen Artikel. Leider findet öffentlich ja keine differenzierte Diskussion mehr statt. Es gibt Fanatismus auf beiden Seiten, den „Coronaleugnern“ und den Ja-Sagern. Ich sehe absolut ein, dass man eine Maske trägt, um vulnerable und gefährdete Mitmenschen zu schützen, aber diese generelle Pflicht ist eine extreme Belastung im Alltag. Was haben wir gegen die Burka gewettert, weil sie die Frauen zu gesichtslosen, entpersonalisierten Wesen macht. Nun rauben wir uns freiwillig das Lächeln und die Mimik. Bald haben wir wahrscheinlich überall Videokameras, die unser Wohlverhalten überprüfen wie in China. Das finden dann auch alle super. Über die Sinnhaftigkeit darf man nicht mehr sprechen, Differenzierungen unerwünscht! Jeder, der kritiklos mitmacht hat Recht und ist per se gut!- Und selbst, wenn man ein Attest hat wie ich (eingeschränkte Lungenfunktion), dann muss man auf Schritt und Tritt Belehrungen, Zurechtweisungen und feindselige Blicke ertragen. Der starke Wunsch, ohne zu denken mit der (wahlweise roten, schwarzen, grünen, gelben oder braunen) Herde zu laufen und Abweichler in die Schranken zu weisen, zeigt in eine sehr ungute Richtung. Solche kritischen Blogs sind viel zu selten. Ich wünsche Ihnen viele Leser!

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