Ein journalistischer Schnellschuss und seine Folgen

Zum Fall des thüringischen Landesvorsitzenden der GdP (Gewerkschaft der Polizei)

Dem investigativen Journalismus kommt in einer Demokratie eine wichtige Funktion zu. Dies gilt jedoch nur dann, wenn bei Veröffentlichungen die nötige Sorgfalt an den Tag gelegt wird. Sonst besteht die Gefahr, dass aus kritischer Aufklärung Skandaljournalismus wird.

Ein heißer Tipp

Viele offene Fragen

Verdächtigungen – und ein schlimmer Verdacht

Was unter einer Medienlawine begraben wird

Gefährdung des Rechtsstaats

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Ein heißer Tipp

Heute mal ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, Du gehörst zur Redaktion eines großen deutschen Nachrichtenmagazins. Eines Tages erhältst Du einen heißen Tipp: Der Landesvorsitzende einer Polizeigewerkschaft soll sich des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht haben.
Natürlich weißt Du, dass so etwas in den Zeiten von „Me Too“ ein echter Scoop wäre. Also machst Du Dich gleich an die Recherche-Arbeit. Dabei stellt sich als Erstes heraus, dass der Beschuldigte dem linken politischen Spektrum zuzurechnen ist. So hat er sich etwa vor der letzten Landtagswahl in seinem Bundesland für eine Neuauflage der rot-rot-grünen Koalition stark gemacht – gegen den Widerstand rechtsgerichteter Gewerkschafter (1).
Ferner stellst Du fest, dass der Gewerkschafter sich offen für eine Studie zum Zusammenhang von Rassismus und Polizeigewalt gezeigt hat (2). Auch ist er für einen Unvereinbarkeitsbeschluss eingetreten, durch den die gleichzeitige Mitgliedschaft in der betreffenden Gewerkschaft und in rechtspopulistischen oder rechtsextremen Parteien ausgeschlossen werden sollte (3). Bei Facebook stößt Du außerdem auf einen Post, dem zufolge der Beschuldigte sich gegen einen Kollegen gestellt haben soll, der sich des sexuellen Missbrauchs an einer afghanischen Migrantin schuldig gemacht haben soll. Hierzu passen auch Berichte, wonach der Gewerkschafter sich für eine Studie zu Rassismus und racial profiling eingesetzt hat (4).

Viele offene Fragen

Bei Wikipedia findest Du schließlich noch Hinweise, dass Vorwürfe gegen die Vorsitzenden der betreffenden Gewerkschaft nichts Neues sind. Schon gegen den Vorgänger des jetzigen Vorsitzenden war ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, weil er angeblich 56 Euro unterschlagen hatte. Als Folge hiervon musste er nicht nur die Beschlagnahmung seines Laptops, sondern auch eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen. Am Ende erwiesen sich die Vorwürfe als haltlos (5).
Auch der aktuelle Gewerkschafts-Chef hat sich, wie Du feststellen musst, schon früher Anschuldigungen ausgesetzt gesehen. So war ihm vorgeworfen worden, einer Polizeischülerin Prüfungsunterlagen angeboten zu haben. Als die Unterstellungen sich nicht bestätigten, war schon damals das schwerere Geschütz angeblicher sexueller Belästigung aufgefahren worden (6).
Nachdem Du alle Fakten zusammengetragen hast, sitzt Du da und grübelst: Wie sollst Du mit Dem „heißen Tipp“ umgehen?

Verdächtigungen – und ein schlimmer Verdacht

Natürlich kann ich hier nicht für andere sprechen. Mir selbst aber würde mein journalistischer Instinkt in diesem Fall sagen: Die Sache stinkt! Das Ganze sieht einfach zu sehr nach einem Rachefeldzug der berüchtigten rechtslastigen bis rechtsextremen Netzwerke innerhalb der Polizei aus.
Natürlich wäre mein nächster Gedanke dann gleich: Du hast zu viele Krimis geguckt! Und: Bist Du jetzt etwa auch unter die Verschwörungstheoretiker geraten?
Dennoch wäre ich am Ende lieber vorsichtig. Die Angst, vor den Karren einer rechtspopulistischen Schmutzkampagne gespannt zu werden, wäre einfach zu groß. Und dies wäre ja selbst dann der Fall, wenn die Vorwürfe sich als zutreffend herausstellen sollten. Denn auch hier würde sich die Frage stellen, warum sofort jeder Schutz der Persönlichkeitsrechte außer Kraft gesetzt und der Betreffende öffentlich an den Pranger gestellt werden soll. Wird damit nicht auch das, wofür er politisch eingetreten ist, sein Antirassismus und seine Befürwortung einer Untersuchung unverhältnismäßiger Polizeigewalt, diskreditiert? Welchen Interessen würde ich also mit meinem journalistischen Schnellschuss dienen?

Was unter einer Medienlawine begraben wird

Natürlich ist die Versuchung, mit einer Skandalmeldung eine Medienlawine loszutreten und darauf tollkühn zu Tal zu reiten, immer groß. Im vorliegenden Fall besteht aber die Gefahr, dadurch mehr zu zerstören, als durch die Aufdeckung eines möglichen Fehlverhaltens gewonnen werden kann. Im Einzelnen sind hierbei zu nennen:

  1. die mutwillige Zerstörung eines Lebens, das sich durch den engagierten Einsatz für eine humanere Gesellschaft auszeichnet;
  2. die Gefährdung des Rechtsstaats, für den die Unschuldsvermutung bei Anklagen eines der höchsten Güter darstellt;
  3. die Gefahr, den Kampf von Frauen gegen sexuelle Unterdrückung und körperliche Gewalt zu diskreditieren, indem er als Waffe von Rechtsextremen für die Erreichung entgegengesetzter Ziele missbraucht wird;
  4. die mögliche Diskreditierung des investigativen Journalismus, der durch die Verbreitung unbewiesener Vorwürfe zum Skandaljournalismus zu verkommen droht.

Gefährdung des Rechtsstaats

Leider könnte ich an dieser Stelle nicht über den Fall schreiben, wenn die betreffende Redaktion sich nicht anders entschieden hätte, als ich es getan hätte. Der öffentliche Pranger ist errichtet, das öffentliche Leben des Gewerkschafters ist zerstört, sein privates womöglich auch (7). So hat das Ganze etwas Kafkaeskes: Erst wird das Urteil gesprochen und vollstreckt, dann folgt der Prozess. Nicht der Richter spricht das Urteil, sondern die Zeitschrift, indem sie ein Foto des vermeintlichen Täters veröffentlicht.
Den Rechtsstaat hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt.

  1. Klaus, Fabian: Streit unter Polizeigewerkschaften um Wahlempfehlung für Rot-Rot-Grüne eskaliert; Thüringische Landeszeitung, 24. Oktober 2019.
  2. Deutsche Presse-Agentur (DPA): Polizeigewerkschaft wünscht sich Studie zu Polizeigewalt; 11. Juni 2020.
  3. Seifert, André: Gewerkschaft der Polizei will AfD-Mitglieder ausschließen; MDR, 17. März 2021.
  4. Decker, Markus: Polizeigewerkschafter tritt für Rassismusstudie bei Polizei ein. RND (Redaktionsnetzwerk Deutschland) 7. Juli 2020.
  5. Wikipedia: Landeskriminalamt Thüringen: Ermittlungen gegen eigenes Personal und Gewerkschafter.
  6. Ebd.
  7. Der Spiegel: Thüringer GdP-Chef legt nach Vorwurf sexueller Übergriffe sein Amt nieder (mit Link zum ursprünglichen „Enthüllungsartikel“); Süddeutsche Zeitung, 23. April 2021.

Bild: DigitArtPics: Pranger (Pixabay)

7 Kommentare

  1. Man hätte die Chance gehabt, aus dem Ganzen eine spannende Politstory zu machen… Aber die Vorherrschaft des Boulevards und die Fantasielosigkeit waren größer…. Abgesehen vom Umgang mit Persönlickeitsrechten.

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  2. Ich tendiere immer mehr zu dem Verlangen, die Kommentare im WWW abzuschaffen. Schrecklich, wie ich drauf bin. Aber ich kann diese Megafülle mediokrer, banaler bis aggressiv gemeiner Wortschwalle nicht mehr ertragen. Vor allem: sie bringen nichts – außer Verunsicherung, Spaltung, Hass und Häme.Gerade jetzt während der Pandemie, wenn zu viele Menschen zu viel Zeit in der digitalen Pseudo.Realität verbringen.

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  3. Danke für diesen interessanten und guten Artikel. Die meisten Menschen hinterfragen „Meldungen“ nicht. Sie empören sich über den „Straftäter“. Der Rechtsstaat, die möglichen Hintergründe, die Person an sich … ist schon zu anstrengend, sich damit zu befassen. Umso verwerflicher ist die schlechte journalistische Arbeit des Spiegels in diesem Fall. @ Marie Bastide: Der Zusammenhang zwischen dem Text von Rotherbaron und Ihrem Kommentar erschließt sich mir nicht. Text gelesen?

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  4. Klar. Ich bezog mich in meiner Antwort auch nicht auf den Spiegel bzw. die Medien, sondern die Kommentare, die Menschen unter solchen Artikeln hinterlassen. Da es diese Kommentarfunktion praktisch überall gibt, resultiert daraus allerdings eine noch größere Sorgfaltspflicht der Medienschaffenden. Was ist eigentlich aus „in dubios pro reo“ und „audiatur et altera pars“ geworden? 🙂

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    1. Danke für die Erläuterung!
      Ich finde die Geschichte an sich auch spannend. Was ist, wenn der Spiegel jetzt damit der AFD in die Hände spielt und kritische Studien zur Polizeigewalt verhindert, nur um „ Schmuddelpresse“ zu betreiben?

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  5. Hier kommt einiges zusammen: Journalisten, denen es eher um ihre „Story“ geht und die Hetz- und Hassstimmung im Netz. Wir brauchen eine Kampagne für Nachdenklichkeit, Achtsamkeit und Mitmenschlichkeit!

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