Vom Sinn des Pilgerns

Eine Meditation mit Bruder Norabus

Eine Pilgerreise muss nicht zu den klassischen Wallfahrtsorten führen. Der Sinn des Pilgerns offenbart sich oft eher auf unscheinbaren Routen.

Ein Dissens mit dem Abt

Um dies gleich zu Beginn klarzustellen: Ich empfinde eine hohe Wertschätzung für den Abt unseres Klosters. Auch wir haben Nachwuchssorgen, auch wir leiden an wirtschaftlichen Problemen. Dass Bruder Ägidius bei all dem bürokratischen Kleinkrieg, der sich daraus ergibt, den geistigen Sinn unserer Gemeinschaft nicht aus dem Blick verliert, rechne ich ihm hoch an.

Wenn es allerdings um das Pilgern geht, bin ich ganz und gar nicht einer Meinung mit unserem Abt. Bruder Ägidius ist strikt dagegen, dass auch wir Mönche uns von Zeit zu Zeit auf eine Pilgerreise begeben. Er ist der festen Überzeugung, dass dies nur ein Vorwand dafür sei, sich eine Art Auszeit von der strengen klösterlichen Regel zu verschaffen und sich stattdessen von den Wogen des weltlichen Lotterlebens treiben zu lassen.

Warum Gott sich von klassischen Wallfahrtsorten fernhält

Ich weiß natürlich, woran er dabei denkt: an die klassischen Wallfahrtsorte, wo der Gegenstand der Anbetung in der Tat hinter einem sehr weltlichen Jahrmarktstreiben verschwindet. Wenn das Pilgern sich auf solche Ziele beschränken würde, gäbe es keinerlei Dissens zwischen mir und Bruder Ägidius. Auch ich muss dabei an die Händler und Geldwechsler im Tempel denken, an die zornige Enttäuschung, mit der einer, der es wissen musste, diese Anbeter des Goldenen Kalbs einst der Entweihung des Heiligsten bezichtigt hat.

Vor allem aber halte ich es für anmaßend, ein einmal geschehenes Wunder durch bestimmte Zeremonien quasi immer wieder neu erzwingen zu wollen. Mir kommt das vor, als wollte man jemanden, der einem einmal ein großes Geschenk gemacht hat, in regelmäßigen Abständen dazu nötigen, einen immer wieder mit demselben Geschenk zu beehren.

Ein Wunder aber lässt sich nicht erzwingen. Es kann nicht durch magische Beschwörung und rituelle Abläufe wiederholt oder herbeigeredet werden. Sein Wesen besteht ja eben darin, dass sich es sich gerade dann und gerade dort ereignet, wann und wo man es am wenigsten erwartet.

Die Pilgerreise als Spiegelbild der Lebensreise

Wie gesagt: Wenn es um die klassischen Wallfahrtsorte geht, teile ich die Skepsis unseres Abtes. Was ich ihm aber vorwerfe, ist, dass er die Pilgerfahrten dorthin ganz allgemein mit dem Pilgern gleichsetzt. Für mich nämlich hat das Pilgern einen ganz anderen Sinn.

Eine Pilgerreise ist für mich im Kern ein Abbild der Lebensreise. Oder genauer: eine bestimmte Form, sich zu seiner Lebensreise in Beziehung zu setzen.

Die Lebensreise ist im Grunde ja keine sehr attraktive Reise. Sie beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod – einem Reiseziel, das wohl kaum jemand ansteuern würde, wenn er die Wahl hätte.

Da wir in diesem Punkt aber nun einmal keine Wahl haben, tun wir im Alltag alles, um das Bewusstsein für die Reise, auf der wir uns befinden, zu betäuben. Auch wenn es mich schmerzt, muss ich doch zugeben: Das ist hier im Kloster nicht anders. Auch hier führen all die Regeln und Gebote, die meinen Alltag prägen, mitunter dazu, dass ich den Sinn meines Weges aus den Augen verliere. Dann fühle ich mich im Innersten ganz taub und habe das schreckliche Gefühl, das, worum mein geistiges Leben kreist, mit meinen Alltagsverrichtungen zu ersticken.

Eine Pilgerreise ist für mich die Möglichkeit, mich wieder für die Wahrheit meiner Lebensreise zu öffnen; mir wieder der Schutz- und Hilflosigkeit bewusst zu werden, mit der ich durch dieses Leben wandere. Eben dadurch kann sich meine Seele aber auch wieder für die unsichtbare Hand öffnen, die mich auf dieser Wanderung leitet und trägt.

Das Wunder der verfallenen Kapelle

Eine so verstandene Pilgerreise führt eben gerade nicht zu den klassischen Wallfahrtsorten, wo das Wunder an jeder Ecke zum Kauf angeboten wird. Ihr Ziel sind eher die unscheinbaren, abgelegenen Orte, die auf keiner der großen Pilgerrouten verzeichnet sind und deren Bedeutung sich allein aus der einen, unumstößlichen Gewissheit ergibt: Es gibt keine Kirche, in der Gott nicht zu Hause ist. Noch in der kleinsten Kapelle brennt sein Licht.

Am deutlichsten habe ich das gespürt, als ich einmal auf einer Pilgerreise durch Frankreich abends im Wald auf eine verfallene Kapelle gestoßen bin. Da es schon dämmerte und ich auch ein wenig vom Weg abgekommen war, beschloss ich, im Schutz der Kapelle zu übernachten. Dabei hat sich, wie so oft im Leben, der scheinbare Irrweg als der eigentlich wahre Weg erwiesen.

Denn in dieser Nacht habe ich zum ersten Mal den Hauch des Wunders gespürt. Nein, ich bin nicht von einer heiligen Hirschkuh geküsst worden, und es hat mir auch nicht von irgendwoher eine verborgene Marienstatue zugezwinkert. Es war einfach so, dass ich die Anwesenheit eines Geheimnisses gespürt habe, für das selbst einem Tag für Tag im Gebet versunkenen Mönch die Worte fehlen.

Apulische Agape

Ein anderes Mal habe ich auf einer Pilgerreise durch Apulien einen Bauern getroffen. Das heißt, eigentlich war er nur Nebenerwerbslandwirt, seine Familie ernährte er mit Fabrikarbeit. Umso mehr erfüllten ihn allerdings die selbst angebauten Oliven und der selbst gekelterte Wein mit Stolz. Spontan lud er mich zu sich ein, und zum Abschied schenkte er mir noch ein großes Glas Oliven und eine Flasche Wein.

Es war im Grunde eine Allerweltsbegegnung, ein Aufeinandertreffen von Menschen, deren Lebenswege sich für ein paar wenige Augenblicke kreuzen. Als ich aber später über einer Schlucht rastete und von den Oliven und dem Wein kostete, erschien mir die kleine Mahlzeit auf einmal wie eine Nabelschnur, die mich auf eine innige, geistige Weise mit meiner Umgebung und mit allen darin lebenden Wesen verband. Nie zuvor hatte ich den tieferen Sinn des Brotbrechens so intensiv empfunden.

Eine Pilgerreise zu Aschenbrödel-Kirchen

Natürlich bin ich kein geistiges Waisenkind. All die Gebete, Meditationen und Gottesdienste, die hier im Kloster meinen Alltag prägen, legen sich um meine Seele wie ein weiches Gespinst, das meinem Glauben ein Zuhause bietet.

Wahres Gottvertrauen offenbart sich für mich aber gerade in dem Mut, dieses Zuhause von Zeit zu Zeit zu verlassen. Deshalb würde ich sehr gerne noch einmal zu einer Pilgerreise aufbrechen – meine Glaubensheimat zeitweilig verlieren, um sie neu zu gewinnen.

Ich habe mir schon – natürlich ohne Wissen von Bruder Ägidius – eine Route durch einige dieser Aschenbrödel-Kirchen zusammengestellt, die von der Welt kaum beachtet werden. Dabei ist es doch so: Je greller der Prunk in den Kirchen leuchtet, desto mehr wird der göttliche Funke davon überdeckt. In der Bescheidenheit eines dunklen Kirchengewölbes lässt er sich, finde ich, viel leichter entdecken.

Die Entzündung des Seelenfunkens

Womöglich ist es mit den Menschen ja nicht anders als mit den Kirchen: Je unspektakulärer sie ihr Leben leben, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie anderen ohne die Maskerade ihrer Alltagsrollen begegnen. Dies ermöglicht dann eine Begegnung von Mensch zu Mensch, in der, jenseits des gesprochenen Wortes, eine Seele sich für die andere öffnet.

Jede solche Begegnung ist ein kleines Wunder, das einen über die Bitternisse der Lebensreise hinwegtröstet – nicht anders als das stille Leuchten, das manchmal gerade in der unscheinbarsten Kapelle die Seele erfasst.

Bild: Arnošt Hofbauer (tschechischer Maler, 1869 – 1944): Pilger (1905); Wikimedia commons

2 Kommentare

  1. Was für ein schöner Text. Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte ich schon einmal eine „Pilgerreise“ gemacht, ohne es geplant zu haben… Es gehört aber eine geistige Offenheit ohne große Erwartung dazu, diese „Seelenfunken“ zu erleben. Bruder Norabus hat recht: „Wunder“ lassen sich weder planen noch erzwingen. Schade, dass Bruder Norabus nicht in unserer Kirche predigt. Vielleicht käme es dann dort eher zu geistigen Berührungen. Leider wird dort eher ein totes Ritual abgespult. Man kann bei so manchem Gottesdienst zum Ungläubigen werden.

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  2. Ein sehr inspirierender Text – wie auch die anderen von „Bruder Norabus“. Sehr gern gelesen und darüber nachgedacht. Und dabei bin ich Agnostiker. Aber gäbe es Bruder Norabus und ich hätte ein ausgiebiges Gespräch mit ihm, würde ich vielleicht schwach werden …

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