Kubanische Vexierbilder

Raul Zeliks Feature über die komplexe Wirklichkeit auf Kuba

Das Rothe Ohr: Radiofeature-Awards/4

Radiofeature-Awards auf rotherbaron – heute: Raul Zeliks Feature über die komplexe Wirklichkeit auf Kuba.

Kreativer Umgang mit der Mangelwirtschaft

„Die Stimmen überlagern sich“ – das sind die Schlussworte von Raul Zeliks Kuba-Feature. Es könnte auch der Titel des Features sein. Denn dessen entscheidendes Charakteristikum ist es, ein ausgesprochen differenziertes Bild der politischen, soziokulturellen und wirtschaftlichen Situation in Kuba zu zeichnen.

So beschreibt das Feature einerseits die Mangelwirtschaft auf Kuba, durch die weite Teile der Bevölkerung auf Lebensmittelzuteilungen der Regierung angewiesen sind, sich aber dennoch auf umständliche Weise um weitere nötige Grundnahrungsmittel bemühen müssen. Andererseits wird aber auch das Improvisationstalent der Menschen vor Augen geführt, durch das sie nun schon sechs Jahrzehnte lang der US-amerikanischen Blockadepolitik ebenso trotzen wie der dirigistischen Wirtschaftspolitik der eigenen Regierung.

Gut aufgestelltes Gesundheitssystem

Auch die erfolgreiche Corona-Politik ist nicht zuletzt der Gewöhnung an den kreativen Umgang mit Mangelsituationen zu verdanken. So kommen in dem Feature Wissenschaftler zu Wort, die über die eigenständige Entwicklung gleich mehrerer erfolgreicher Corona-Impfstoffe berichten.

Die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist so vielleicht gerade durch den Zwang zur Autarkie besser als in anderen lateinamerikanischen Ländern. Kubanische Ärztinnen und Ärzte sind ein Exportschlager, und Gesundheit ist kein Luxusgut, sondern ein selbstverständliches Grundrecht aller auf Kuba lebenden Menschen. Gleiches gilt für das Recht auf Bildung, bei dem es ebenfalls keinerlei Klassenunterschiede gibt.

Defizite bei Emanzipation und Rassismusbekämpfung

Auf der anderen Seite verschweigt das Feature aber auch nicht den latenten Rassismus, den es auch auf Kuba gibt. Sowohl in Regierung und Verwaltung als auch in der Opposition sind dunkelhäutige Menschen tendenziell benachteiligt. Wie in den USA geraten sie häufiger in Polizeikontrollen, und als Regimegegner landen sie auch eher im Gefängnis als im Ausland, zumal ihnen die Mittel für die Emigration fehlen.

Auch bei der Emanzipation stellt sich die Lage in Kuba nicht viel fortschrittlicher dar als in anderen Ländern Lateinamerikas. Die Pest der Femizide, die andernorts an der Tagesordnung sind, scheint zwar in Kuba nicht verbreitet zu sein. Allerdings wird von Schulmädchen erwartet, kurze Röcke zu tragen, und die offizielle Frauenorganisation der Partei zeichnet sich eher durch die Herausgaben von Kochrezepten als durch den Kampf für Frauenrechte aus.

Kubanische Opposition: Möglichkeiten und Grenzen

Typisch für Kuba ist allerdings, dass derartige Entwicklungen nicht unwidersprochen hingenommen werden. Offene Opposition wird zwar verfolgt, in begrenztem Rahmen sind Kritik und Protest aber – wie das Feature anhand einer Fraueninitiative zeigt – durchaus möglich.

Kuba ist eben keineswegs so abgeschottet wie China, wo sich das Internet mehr und mehr zu einem von den Landesgrenzen eingehegten Intranet entwickelt und jede noch so unbedeutende kritische Meinungsäußerung automatisch registriert und geahndet wird. Die Straßenproteste des Jahres 2021, zu denen das Feature ebenfalls Stimmen eingefangen hat, sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen.

Gleichzeitige Entmystifizierung und Entdiabolisierung Kubas

Das Feature trägt so gleichermaßen zu einer Entmystifzierung und Entdiabolisierung Kubas bei. Einerseits kratzt es am Denkmalstatus, den Kuba bei manchen Linken bis heute hat. Andererseits zeichnet es aber auch den ganz normalen Alltag von Menschen auf Kuba nach, ihr kleines Glück, das sich oft nicht groß von dem der Menschen in anderen Regionen der Welt unterscheidet.

Besonders aufschlussreich sind dabei die Interviews mit Menschen, die den umgekehrten Weg der Emigration gegangen und selbst auf Kuba gestrandet sind. So enthält das Feature etwa ein Gespräch mit einem ehemaligen Aktivisten der baskischen Unabhängigkeitsorganisation ETA, den es in den 1980er Jahren nach Kuba verschlagen hat und der sich ausgerechnet dort zum Unternehmer gewandelt hat.

Umgekehrte Emigration: Auf Kuba gestrandete Linke

Bezeichnend ist auch das Gespräch mit einem führenden Mitglied der kolumbianischen Befreiungsbewegung ELN. Zu Friedensgesprächen nach Kuba gereist, musste er nach dem Abgang von Friedensnobelpreisträger José dos Santos aus dem kolumbianischen Präsidentenpalast in Kuba bleiben, weil der neue Präsident Iván Duque das ihm zugesicherte freie Geleit auf einmal nicht mehr anerkannte.

Der einstige Guerillakämpfer hat sich indessen mit seiner Situation abgefunden und tut, was er nach eigener Aussage auch im kolumbianischen Urwald getan hat: Er beschäftigt sich mit Landwirtschaft. Denn eben dies – den ökologisch-agrarischen Umbau der Gesellschaft – sieht er nicht nur als Ziel des innerkolumbianischen Kampfes, sondern allgemein als Ideal für die künftige Weltgemeinschaft an.

So vermittelt das Feature nicht nur ein differenziertes Bild der kubanischen Gesellschaft, sondern zugleich auch ein Gefühl für die Komplexität linker Bewegungen. Es räumt in erfrischender Weise auf mit dem Vorurteil, wonach jede Befreiungsbewegung unter dem Generalverdacht des Terrorismus steht.

Das Feature als Gesamtkunstwerk

Was an dem Feature auch auffällt, ist seine kunstvolle Gestaltung. In besonderer Weise wird hier deutlich, dass es bei einem Feature zwar stets eine Person gibt, die die Grundidee hat, die vor Ort recherchiert und Stimmen sammelt – dass aber das Endprodukt immer eine Art Gesamtkunstwerk ist, an dem eine Vielzahl an Personen beteiligt ist.

So sind bei dem Feature in besonderem Maße die hervorragende Regie, das genau abgestimmte Abmixen von Musik, Tönen von Originalschauplätzen und Stimmen sowie die ausgezeichnete Sprecherleistung hervorzuheben.

Raul Zelik: Kuba – Echo der Sechziger. WDR, 2. Juli 2022.

Redaktionsteam, Regisseurin sowie Sprecherinnen und Sprecher werden im Netz nicht aufgeführt, aber am Ende des Features namentlich erwähnt.

Information über Raul Zelik finden sich in seinem Wikipedia-Eintrag sowie auf der Homepage des Autors.

Bild: Jules Pascin (1885 – 1930): Kubanische Landschaft (1915); Wikimedia commons

Schreibe einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s