Zwei Seelen wohnen, ach! in Russlands Brust

Jahresrückblick 2022: Überfall auf die Ukraine

Die von der russischen Armee in der Ukraine begangenen Verbrechen müssen klar verurteilt und verfolgt werden. Ein Russland jenseits von Putin kann es aber nur dann geben, wenn die russische Gesellschaft nicht pauschal an den Pranger gestellt und isoliert wird.

Staatsterrorismus als Mittel der Kriegsführung

Notwendigkeit einer Anpassung des Völkerrechts

Menschenrechtsverbrechen: Nichteinmischung als unterlassene Hilfeleistung

Kreml-Kamarilla vs. Küchenkritik

Hoffen auf ein Russland jenseits von Putin

Ausführliche Beiträge zum Thema

Staatsterrorismus als Mittel der Kriegsführung

Der Überfall der russischen Armee auf die Ukraine war in diesem Jahr auch in RBs Blog-Hütte das alles beherrschende Thema – auch wenn die Hütte selbst glücklicherweise noch steht.

Dass der Krieg mich wie so viele andere derart umtreibt, liegt nicht nur daran, dass er sich vor unserer Haustür abspielt. Viel wichtiger scheint mir die Tatsache zu sein, dass es sich dabei im Grunde gar nicht um einen Krieg im klassischen Sinn handelt.

Was die russische Armee in der Ukraine anrichtet, lässt sich weit eher als eine Serie von Terroranschlägen und systematischen Folterungen beschreiben – und zwar mit dem erklärten Ziel, ein Volk oder zumindest dessen Kultur auszulöschen. Dabei zum Zusehen verurteilt zu sein, ist kaum zu ertragen.

Notwendigkeit einer Anpassung des Völkerrechts

Eine zentrale Konsequenz aus den in der Ukraine begangenen Verbrechen muss es daher sein, für derartige Attacken geeignete Beschreibungskategorien zu finden – und dann auch auf dieser Grundlage auf sie zu reagieren.

Das, was das Völkerrecht für den Umgang von Kriegsparteien miteinander und anderer Völker diesen gegenüber vorsieht, lässt sich auf das Geschehen in der Ukraine nur sehr bedingt anwenden. Schließlich spielen sich die Gewalttaten nahezu ausschließlich auf dem Territorium der Ukraine ab, die allein als Verteidigerin ihrer Existenz agiert.

Noch nicht einmal vom Kreml wird das eigene Agieren ja als Krieg  bezeichnet. So lässt sich das Geschehen weit eher in Täter-Opfer-Kategorien als mit dem klassischen Begriffsinventar des Krieges beschreiben. Dies bedeutet, dass wir es hier eher mit einem gigantischen Verbrechen als mit kriegerischen Handlungen zu tun haben.

Menschenrechtsverbrechen: Nichteinmischung als unterlassene Hilfeleistung

Für den Fall einer dauerhaften, systematischen Terrorisierung eines Volkes durch ein anderes Land müssten folglich ähnliche Regeln gelten wie im Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wie diese überall auf der Welt juristisch verfolgt werden können, sollte auch bei einer Serie von Terrorangriffen wie jetzt in der Ukraine jedes Land auf der Welt in der Pflicht stehen, den Menschenrechtsverbrechen Einhalt zu gebieten.

Dies würde eine Umkehr der bisherigen Betrachtungsweise nach sich ziehen: Die Einmischung zugunsten des Opfers wäre nicht mehr mit der Angst vor einem Kriegseintritt behaftet, sondern würde schlicht als Gebot der Menschlichkeit gelten. Davon abzusehen, würde den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung erfüllen.

Derartige Standards könnten künftige Terrorkriege schon im Ansatz unterbinden. Ein Land, das derartige Angriffe auf ein anderes Volk plant, müsste dann nämlich stets mit dem Widerstand der gesamten Weltgemeinschaft rechnen.

Kreml-Kamarilla vs. Küchenkritik

Ein anderer Grund, warum mir persönlich die von der russischen Armee in der Ukraine verübten Verbrechen so sehr zu schaffen machen, ist meine enge Beziehung zu Russland.

Ich spreche deshalb auch ganz bewusst von den „Verbrechen der russischen Armee“ oder dem „Krieg der Kreml-Kamarilla“. Es stimmt zwar, dass dies nicht allein „Putins Krieg“ ist – einer allein könnte gar nicht all die Verbrechen begehen und all die Tod bringenden Raketen abfeuern. Aber es ist eben auch nicht der „Krieg Russlands“.

Es mag sein, dass sich viele in Russland in ein paar Jahren die Frage gefallen lassen müssen, warum sie – allen Drangsalierungen durch das Regime zum Trotz – nicht entschiedener gegen die im Namen ihres Volkes in der Ukraine  verübten Verbrechen vorgegangen sind. Fakt ist aber: Überwachung, Kontrolle und Zensur haben in Russland mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das jede Form von Kritik im Keim erstickt. Massiver Widerstand gegen das Regime gleicht einem Kamikaze-Unternehmen.

Wie viel Kritik in Russland – zusätzlich zu den öffentlichen Wortmeldungen von Menschenrechtsorganisationen, russischen Auslandsmedien, Intellektuellen und Kulturschaffenden – hinter vorgehaltener Hand geäußert wird, können wir von außen nicht beurteilen. Es ist aber anzunehmen, dass die Menschen in Russland ganz selbstverständlich an die Tradition der Sowjetunion anknüpfen, als das freie Wort sich ebenfalls nur im Flüsterton der Küchengespräche Luft verschaffen konnte.

Selbst dies mussten angesichts der allgegenwärtigen Geheimdienstspitzel viele mit der Freiheit oder dem Leben bezahlen. Schon vor Putin war es eben in Russland nur in eng umgrenzten Tauwetter-Perioden möglich, ohne weiteres von der offiziellen Linie in Kunst und Politik abzuweichen.

Hoffen auf ein Russland jenseits von Putin

Es ist dieses andere, menschliche, kritikbereite Russland, auf dem die Hoffnungen für eine Zeit nach Putin ruhen. Auf keinen Fall sollte daher die russische Kultur und Gesellschaft als Ganzes mit einem Paria-Status versehen werden.

Eben dies geschieht derzeit in der Ukraine, indem etwa die gleichzeitige Verleihung des Friedensnobelpreises an ukrainische, weißrussische und russische Organisationen kritisiert wird und russische Kunst und Kultur von schulischen Lehrplänen und Spielplänen für Theater und Konzerthäuser gestrichen wird.

Angesichts der gegenwärtigen alptraumhaften Erfahrungen des Landes ist eine solche pauschale Aversion gegen alles Russische zwar verständlich – auch wenn sich dabei angesichts der zahlreichen Verbindungen zwischen den beiden Ländern gerade im Bereich der Kunst die Frage stellt, wie originär ukrainische und russische Kultur sauber voneinander getrennt werden sollen.

Der Rest der Welt sollte sich aber stets vor Augen halten, dass es – der Selbstdarstellung des Kreml-Herrschers als eines Retters der russischen Welt zum Trotz – eben doch ein Russland jenseits von Putin gibt, das sich hoffentlich irgendwann aus dessen Würgegriff befreien wird.

Ausführliche Beiträge zum Thema

Überblick zu zentralen Aspekten der Thematik:

Stichworte zum Krieg gegen die Ukraine. Ein antipropagandistisches Mini-Glossar.

Völkerrechtliche Aspekte:

Völkerrecht à la carte. Zu den juristischen Spitzfindigkeiten im Umgang mit Russland.

Historische Einordnung:

Guernica 1937, Butscha 2022. Warum fällt es uns so schwer, aus der Geschichte zu lernen?

Zur Förderung von Gewaltbereitschaft im System Putin:

Der Große Vaterländische Blutrausch. Die russische Gesellschaft unter Putin und die Gewaltexzesse in der Ukraine.

Zum Nebeneinander von Gewalt und Mitgefühl in Russland:

Putin und Stalin versus Achmatowa und Dostojewski: Was ist die russische Seele? In: Anna Achmatowa und die russische Seele. Gedichte gegen den Terror, S. 18 – 23.

Zur musikalischen Gegenkultur in Russland:

Putinistan und Russkij-Rockistan. Zur Kontinuität der musikalischen Gegenkultur in Russland.

Der Krieg als Verrat am Selbst. Anti-Kriegslieder in der russischen Gitarrenlyrik.

Russische Antikriegslieder aus unterschiedlichen musikalischen Genres: Volks- und Kunstlied, Gitarrenlyrik, Singer-Songwriter, Rockmusik.

Literarische Auseinandersetzung mit der Thematik:

Zacharias Mbizo: Die Ukrainische Apokalypse. Literarische Miniaturen.

Buch

Ebook

PDF: erweiterte Fassung Oktober 2022

Bild: Collage unter Verwendung von Kuuma Petrov-Vodkin (1878 – 1939): Anna Achmatowa (1922); St. Petersburg, Russisches Museum; Wasilij Perov: Dostojewskij, 1872, Tretjakow Galerie (Wikimedia)

6 Kommentare

      1. Das tun auch viele, aber die meisten landen im Gefängnis oder gehen ins Exil. Es herrscht ein Klima der Angst.

        Dimitri Anatoljewitsch Medwedew / Wladimir Wladimirowitsch Putin / Dmitri Walerjewitsch Utkin / Wladimir Michailowitsch Gundjajew /

        Die Lektionen für den Kreml, der aus den historischen Erfahrung, durch Genozid an der eigenen Bevölkerung, unter Иосиф Виссарионович Сталин nichts gelernt hat. Stalins Genozid in der Ukraine: „Eine Wahrheit, die man jahrzehntelang zu vertuschen versuchte“ Der Genozid und der Terror in der Ukraine geht weiter.

        Die neoimperialen Angriffskriege des Kreml sind ein Verbrechen.

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  1. „Es ist dieses andere, menschliche, kritikbereite Russland, auf dem die Hoffnungen für eine Zeit nach Putin ruhen. Auf keinen Fall sollte daher die russische Kultur und Gesellschaft als Ganzes mit einem Paria-Status versehen werden.“ – So sehe ich das auch!!!! Leider haben sich die Verantwortlichen aus der Politik und den Medien all die Jahre nicht um die Reste russischer Zivilgesellschaft geschert oder massiv den Jugend- und Kulturaustausch gefördert. Stattdessen sind sie um Putin, diesen Massenmörder, herumscharwenzelt!

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