Autoritarismus und „Neue Autorität“

Populismus und Autoritarismus, Teil 8

Um dem Populismus und seinen autoritären Tendenzen zu begegnen, müsste schon die Schule ein Raum für demokratisches Probehandeln sein. Stattdessen wird dort jedoch in den letzten Jahren verstärkt ein im Kern antidemokratisches Autoritätskonzept propagiert.

Die Schule als Proberaum für demokratische Umgangsformen

Die wirksamste Immunisierung gegen die schleichende Durchdringung der Demokratie mit dem Gift populistisch-autoritaristischer Denk- und Handlungsimpulse wäre wohl eine entsprechende Sensibilisierung der Heranwachsenden in der Schule.

Dies darf allerdings nicht durch eine rein analytische Herangehensweise geschehen. Es reicht nicht aus, populistische Parteien als anti-demokratisch zu brandmarken und einzelne ihrer Behauptungen in ihrem Fake-Charakter zu entlarven. Dies gilt umso mehr, als auch die Mainstream-Parteien der westlichen Demokratien in ihrer Wahlwerbung und dem Eigenlob der Regierungen keineswegs das aufklärerische Ideal des kritischen Denkens fördern.

Entscheidend ist vielmehr, dass die Heranwachsenden in der Schule konkret erleben können, was Demokratie bedeutet. Anstatt die Demokratie nur als abstraktes Ideal zu lehren, muss die Schule selbst zu einer Demokratie werden – also die Lernenden als Subjekte ernst nehmen, sie zu kritischem Hinterfragen ermuntern und ihnen bei der Gestaltung der Lernprozesse größtmögliche Mitbestimmung einräumen.

Zum Konzept der „Neuen Autorität“

Die Realität sieht allerdings ganz anders aus. Der durchgetaktete Stundenplan, die Notengebung und die daran ausgerichteten Lernformen untergraben eher das selbstbestimmte Lernen, als dass sie es fördern. Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahren ein Konzept an Zustimmung gewinnt, dass fast schon als schulische Entsprechung zu autoritären Herrschaftsformen erscheint: die so genannte „Neue Autorität“.

Der Idee nach richtet sich das von dem israelischen Psychologen Haim Omer entwickelte Konzept gegen ein Verständnis von Autorität, das diese durch die unumschränkte, notfalls auch mit Gewalt durchgesetzte Machtposition der Autoritätsperson gewährleistet sieht. Omer zufolge lässt sich die Anerkennung von Autorität demgegenüber gerade dadurch sicherstellen, dass Autoritätspersonen bereit sind, ihr eigenes Verhalten zu hinterfragen und Konflikte im Dialog mit den Untergebenen zu lösen.

Dass Omer sich für einen solchen dialogischen Konfliktlösungsprozess überhaupt auf das Konzept der Autorität bezieht, liegt wohl daran, dass er das Konstrukt der „Neuen Autorität“ auf der Grundlage seiner Erfahrungen beim israelischen Militär entwickelt hat. Es ging ihm also zunächst darum, für eine Einrichtung, die in der Tat nicht ohne klare Hierarchien und Befehlsstrukturen auskommt, eine Form von Autorität zu entwickeln, die gerade durch ihr Absehen von expliziter Gewaltandrohung und die Offenheit für die Sorgen, Nöte und eigenen Initiativen der Untergebenen effektiver ist als das altbekannte Einfordern von Kadavergehorsam. 

Dies ist auch der Hintergrund, vor dem Omer sich auf die Tradition des gewaltfreien Widerstands bezieht, wie er etwa durch Mahatma Gandhi und Martin Luther King repräsentiert wird. Abgezielt wird damit auf die unbedingte Bereitschaft zum Dialog, eine Geduld, die so lange ausharrt, bis ein Konflikt gelöst ist, anstatt ihn unter einer gebrüllten Anweisung des Anführers zu begraben.

Problematische Übertragung des Konzepts auf den schulischen Bereich

Die Übertragung des Konzepts auf die Schule ist allerdings in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die Schule ist nun einmal keine Kaserne – oder sollte dies zumindest nicht sein. So muss das grundlegende Paradigma für die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden hier auch weniger das Konstrukt der Autorität, sondern eher das eines Gemeinwesens sein, in dem Regeln für den zwischenmenschlichen Umgang und das gemeinsame Lernen diskursiv ausgehandelt und überprüft werden.

Die Verknüpfung des Autoritätsgedankens mit dem Konzept des gewaltfreien Widerstands führt, auf die Schule übertragen, zudem zu einer kuriosen Verdrehung der Realität. Denn die Macht liegt hier ja eindeutig in den Händen derer, die durch Noten über Bildungs- und letztlich Berufschancen entscheiden können und darüber hinaus über diverse andere Sanktionsmittel – bis hin zum Schulausschluss – verfügen.

Wenn hier von gewaltfreiem Widerstand die Rede ist, müsste sich dies also logischerweise auf die Lernenden beziehen. Dies gilt in analoger Weise für den allgemeinen Bereich der Erziehung, wo es ebenfalls die Erwachsenen sind, die in Form materieller, aber auch immaterieller Mittel – wie emotionaler Zuwendung – die Macht in Händen halten.

Analogien zu rhetorischen Mitteln autoritärer Regime

Indem hier die Idee des gewaltfreien Widerstands mit der Seite der Machthabenden assoziiert wird, kommt es zu einer Umkehr der Verhältnisse, wie sie ähnlich auch in autoritären Regimen zu beobachten ist. Auch hier wird von denjenigen, die Gewalt ausüben, das aggressive Verhalten gegenüber der eigenen Bevölkerung oder anderen Staaten immer wieder damit legitimiert, dass man sich selbst zu einem Opfer stilisiert, das sich verteidigen müsse. Dies kann sowohl der Begründung eines Angriffskriegs dienen als auch die „Schutzhaft“ angeblich extremistischer oder terroristischer Oppositioneller rechtfertigen helfen.

Eine solche Vorwurfsumkehr liegt auch dem Gedanken des gewaltfreien Widerstands im Konzept der Neuen Autorität zugrunde. In Schule und Erziehung dient dieser Gedanke dazu, Druck auf die Heranwachsenden auszuüben, um sie in einen Dialog nach den Bedingungen der Autoritätspersonen hineinzuzwingen. Das Ideal des gewaltfreien Widerstands wird hier also dazu missbraucht, Formen zumindest indirekter Gewalt zu legitimieren.

So werden durch die Hintertür altbekannte Machtmittel aus dem Arsenal der Schwarzen Pädagogik – etwa Nachsitzen oder Hausarrest – in neuer Etikettierung wieder eingeführt. Nur werden diese Mittel nun als Widerstand der Autoritätspersonen gegen eine angeblich von den Schutzbefohlenen gegen sie gerichtete Gewalt verbrämt – wobei deren Abwehrverhalten letztlich nur in einem Aufbegehren gegen die einseitig von den schulischen, heimpädagogischen oder häuslichen Autoritätspersonen gesetzten Regeln besteht.

„Neue Autorität“ als Nährboden für autoritäre Regime

Auf die Schule übertragen, fördert das Konzept der „Neuen Autorität“ damit das Gegenteil einer demokratischen Erziehung. Diese ließe sich weit eher durch das Ansetzen an den Ideen des amerikanischen Philosophen John Dewey verwirklichen, aus dessen Pädagogik tragfähige Konzepte für die Implementierung eines demokratischen „Way of Life“ in der Schule entwickelt werden können.

Das Konzept der „Neuen Autorität“ ist dagegen eine subtile Methode, den Willen der Heranwachsenden zu brechen und sie zu einer kritiklosen Hinnahme von Autorität zu erziehen. Damit impft dieses Konzept die Lernenden auch nicht gegen die mögliche Usurpation der staatlichen Macht durch autoritär gesinnte populistische Parteien, sondern bereitet genau dieser Art von Machtübernahme den Boden.

Dies gilt umso mehr, als das Konzept der „Neuen Autorität“ auch in der Wirtschaft breit rezipiert wird. In Managementseminaren wird es sogar explizit mit der Vorstellung von „Führung“ assoziiert. Zwar werden auch hier formal die Ideale von Dialog, Empathie und Mitbestimmung in den Vordergrund gestellt. Diese dienen aber auch in diesem Fall einer subtilen Durchsetzung von Autorität, anstatt diese selbst zu hinterfragen.

So hat das Konzept der Neuen Autorität hier, nicht anders als in der Schule, in erster Linie den Zweck, den auf die Beschäftigten ausgeübten Druck mit einem freundlichen Etikett zu versehen. Ein Vorgesetzter, der sich als „Freund“ seiner Untergebenen ausgibt, zwingt diese dazu, sich stärker emotional zu engagieren und Privates – als mögliches Hemmnis für ihre berufliche „Performance“ – preiszugeben. Dies trägt dazu bei, dass der Schutzraum der Privat- und Intimsphäre aufgebrochen und mit dem beruflichen Alltag vermengt wird.

Für die Betreffenden hat dies zur Folge, dass sie sich den Anordnungen noch weniger entziehen können, als wenn diese schlicht im Befehlston angeordnet würden. Die Unzufriedenheit mit der beruflichen Leistung wird so zudem schneller als persönliches Versagen interpretiert und wirkt sich damit auch negativer auf das sonstige Leben der Beteiligten aus.

Durch die Charmeoffensive, mit der im Rahmen des Konzepts der Neuen Autorität Normen und Arbeitsvorgaben an die Betreffenden herangetragen werden, ergibt sich auch eine organische Verbindung zu den Strategien populistischer Bewegungen. Denn diese bahnen sich den Weg zur Macht ja ebenfalls durch eine schmeichlerische Ummäntelung ihrer autoritären Ziele.

Literatur

Baumann-Habersack, Frank: Mit transformativer Autorität in Führung. Die Führungshaltung für das 21. Jahrhundert (2015). Wiesbaden 3. Aufl. 2021: Springer Gabler [ursprünglicher Titel: Mit neuer Autorität in Führung. Warum wir heute präsenter, beharrlicher und vernetzter führen müssen].

Dierbach, Stefan: Der Plan von der Abschaffung der Ohnmacht: Skeptische Anmerkungen zum Konzept der „Neuen Autorität“ aus sozialpädagogischer Perspektive. In: Forum für Kinder- und Jugendarbeit 2016 (Teil 1 in Heft 2, S. 28 – 33; Teil 2 in Heft 3, S. 4 – 11; PDF); Linksammlung zum Thema auf der Website des Verbands Kinder- und Jugendarbeit Hamburg e.V.: Das Handlungskonzept der „Neuen Autorität“.

Hoffmann, Ilka: Die Schule in der Demokratie als Schule der Demokratie. Bildungsreformen als Fundament eines demokratischen Way of Life. St. Wendel 2022: LiteraturPlanet.

Dies.: Soziales Lernen als Voraussetzung demokratischen Lernens. John Deweys Konzept einer demokratischen Schule; rotherbaron.com, 5. Oktober 2022 [mit weiterführenden Literaturhinweisen].

Lutz, Tilman, interviewt von Kaija Kutter: Sozialwissenschaftler über „Neue Autorität“: „Wir brauchen das nicht“; taz, 31. Januar 2019.

Omer, Haim / von Schlippe, Arist: Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen 2004: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Bild: Albert Anker: Dorfschule 1848 (Detail)

Ein Kommentar

  1. Das sind hochspannende Zusammenhänge und ein wichtiger Beitrag zur Debatte. Viele Lehrkräfte fahren geradezu begeistert ab auf dieses Konzept. Sie fühlen sich hilflos angesichts zunehmender Respektlosigkeiten und Aggressionen unter der Schülerschaft. Mit dem Konzept der „Neuen Autorität“ haben sie das Gefühl, das richtige Rezept in der Hand zu haben. Reflexion über die hier aufgezeigten Zusammenhänge findet natürlich nicht statt. Vielleicht helfen einige der Methoden sogar eine Zeitlang. Aber beseitigt das die Probleme?- Werden die Kinder und Jugendlichen damit nicht aus der Reflektion und Verantwortung entlassen? – Und: Müssen und dürfen Regeln nicht hinterfragt werden? – Besonders „schräg“ ist tatsächlich die Übertragung des Konzepts des gewaltlosen Widerstands auf Erziehungssituationen. Damit begebe ich mich als Erwachsener in eine Opferrolle. Gleichzeitig will ich aber Autorität vermitteln. Wie passt das zusammen?????

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