Jedes Mal, wenn von „prorussischen Separatisten“ in der Ostukraine die Rede ist, zucke ich zusammen. Immer habe ich dann das Gefühl, dass dadurch eine Schein-Realität erzeugt wird, die sich wie eine schmutzige Plane über die Wirklichkeit legt. Auch wenn von der Rolle „Russlands“ in dem Konflikt die Rede ist oder von der Alternativlosigkeit einer friedlichen Lösung, scheint mir dies den Blick auf die tatsächlichen Zusammenhänge zu verstellen. Obwohl auch ich weiß, dass die beste Sprache in einer kriegerischen Auseinandersetzung das Schweigen der Waffen ist, erlaube ich mir daher im Folgenden doch, die Sprachregelung in dem Konflikt kritisch zu beleuchten:
1.In letzter Zeit ist viel von Separatismus die Rede in Europa. In Schottland und Katalonien gab es Referenden über die Unabhängigkeit – im einen Fall offiziell, im anderen inoffiziell. Beide Male gingen die separatistischen Bewegungen von Volksgruppen aus, denen die ihnen zugestandene kulturelle Autonomie nicht weit genug geht. Ihr Ziel war und ist es, die Eigenständigkeit zurückzugewinnen, welche die von ihnen bewohnten Territorien vor der Angliederung an den Staat, in dessen Gefüge sie heute eingebunden sind, besaßen.Diese separatistischen Bestrebungen werden von neutralen Beobachtern oft mit einer gewissen Sympathie verfolgt, weil sie Erinnerungen an Befreiungsbewegungen früherer Jahrhunderte – wie etwa den schon damals romantisierten Freiheitskampf der Griechen gegen das Osmanische Reich in den 1820er Jahren – wecken. Umso wichtiger erscheint es, die Unterschiede zu den separatistischen Kampfhandlungen in der Ostukraine vor Augen zu führen.
Zunächst einmal gibt es – anders als im Falle Kataloniens und Schottlands – in der Ostukraine keine eigenstaatliche Tradition, auf die sich die Kämpfer berufen könnten. Auch hat niemand versucht, der russischsprachigen Bevölkerung dort ihre kulturelle Freiheit zu nehmen. Alles, was im Überschwang des Sieges über das Janukowitsch-Regime in Erwägung gezogen worden ist, war die Erhebung des Ukrainischen zur alleinigen Amtssprache. Dies geschah allerdings unter dem Eindruck des Massakers an den Maidan-Demonstranten, für das man angesichts der Nähe der Janukowitsch-Regierung zur russischen Führung dieser eine Mitverantwortung gab.
Dieser bald darauf zurückgenommene Versuch, dem Ukrainischen in der Ukraine mehr Geltung zu verschaffen, hätte aber die kulturelle Freiheit der russischsprachigen Bevölkerung ebenso wenig bedroht wie die Orientierung der Ukraine an westlichen Bündnissen. Wer sich dennoch in einer ukrainischen Ukraine kulturell entwurzelt gefühlt hätte, hätte zudem – anders als Katalanen und Schotten – gleich nebenan ein riesiges Land mit einer der eigenen entsprechenden Mehrheitskultur vorgefunden, wo der Versuch, ein die russische Glorie feierndes Putinistan zu errichten, sicher mit Wohlwollen von ganz oben hätte rechnen können.
Dies zeigt: Wenn im Falle der Ostukraine von „Separatismus“ die Rede ist, geht es nicht darum, dass ein Volk mehr Selbstbestimmung für sich erlangen möchte. Das Ziel der Kämpfer ist es vielmehr, ein Gebiet aus einem anderen Staat herauszulösen, um es entweder an den Nachbarstaat anzugliedern oder aber eine so starke Autonomie dafür zu erwirken, das über das autonome Gebiet die Regierungspolitik des angegriffenen Landes kontrolliert werden kann. Statt von „Separatismus“ sollte man hier deshalb eher von einer verdeckten Invasion sprechen.
2. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu den separatistischen Bestrebungen in Katalonien und Schottland ist die Gewalt, mit der die Kämpfer in der Ostukraine vorgehen. Nun ist Gewaltbereitschaft in derartigen Konflikten grundsätzlich nichts Neues. Auch die ETA oder die PKK haben die von ihnen angestrebten Ziele – ein unabhängiges Baskenland bzw. Kurdistan – unter Anwendung von Gewalt durchzusetzen versucht. Beide Gruppierungen wurden dafür jedoch weltweit als Terrororganisationen geächtet. Auch als die Tschetschenen versucht haben, sich ihre Unabhängigkeit gewaltsam zu erkämpfen, wurden sie von der russischen Führung als Terroristen gebrandmarkt. Die Separatistenführer in der Ostukraine werden dagegen in Verhandlungen über den künftigen Status des umkämpften Gebietes eingebunden.
Zu erklären sind diese Unterschiede offenbar damit, dass ETA und PKK keinen Zugang zu jenem Zauberkiosk hatten, an dem die Kämpfer in der Ostukraine sich für ein paar Kartoffeln und eine Flasche Wodka jene Panzer und Flugabwehrraketen beschaffen können, die ihnen der Friedensfürst Putin vorenthält. Das heißt: Wenn die Mittel separatistischer Kämpfer nur dafür ausreichen, einzelne Attentate zu verüben, werden sie als „Terroristen“ geächtet. Sind sie jedoch stark genug, um Städte einzunehmen und ganze Gebiete zu erobern, so adelt sie dies zu respektablen „Anführern“, die anderen in Verhandlungen ihre Bedingungen diktieren dürfen. Die Sprache beugt sich der Logik der Gewalt.
- 3.Immer wieder ist in Bezug auf die Kämpfe in der Ukraine davon die Rede, die Konfliktparteien sollten sich auf eine friedliche Lösung verständigen; eine militärische Lösung des Konflikts sei nicht möglich. Dabei wird dreierlei übersehen. Zum einen wird die Tatsache missachtet, dass die ukrainische Führung am Anfang mit einer fast schon biblischen Friedfertigkeit auf die russische Aggression reagiert hat, indem sie die Annexion der Krim widerstandslos hingenommen hat. Dabei mag auch die Überrumplungstaktik der russischen Führung eine Rolle gespielt haben, die die Invasion zunächst mit grünen Männchen getarnt hatte, von denen niemand sagen könne, ob sie nicht vielleicht doch vom Mars kämen. Das Ergebnis bleibt jedoch dasselbe: Auf Gegenwehr wurde im Interesse einer Vermeidung unnötigen Blutvergießens verzichtet.
Wie aber sah danach die „Friedensdividende“ aus, von der heute so viel die Rede ist? Die internationale Gemeinschaft hat ein paar laue Sanktionen verhängt, die russische Annexion der Krim insgesamt aber stillschweigend hingenommen. Dabei handelt es sich bei der Krim ja nicht um unfruchtbares Steppenland irgendwo in der Provinz. Mit ihrem Tourismus, den Einnahmen aus dem Pachtvertrag für die russische Schwarzmeerflotte (100 Millionen Dollar pro Jahr, außerdem ein um 30 Prozent reduzierter Preis beim Bezug von russischem Gas), vor allem aber mit den Rohstoffvorkommen vor der Küste war sie vielmehr eine wichtige Stütze der ukrainischen Wirtschaft. Die Problematik der nun erschwerten Energieversorgung des Landes verschärft sich dabei noch durch den Verlust der Kohlereviere im Donbass. Viel zu wenig Beachtung findet zudem auch das Schicksal der Krimtataren, die auf der ukrainischen Krim an ihre frühere Autonomie anknüpfen wollten und ihre Selbstbestimmungsrechte nun erneut bedroht sehen.
Im Kreml andererseits hat man die Annexion zum Discountertarif als Einladung verstanden, weitere grüne Männchen vom Himmel regnen zu lassen, die dann im Osten der Ukraine – selbstverständlich ohne Wissen oder gar Zutun der russischen Führung – aufmarschiert sind. Dass die ukrainische Führung nach den Erfahrungen mit der Krim auf diese zweite Invasion mit Gegenwehr reagiert hat, kann ihr niemand verdenken. Dieser Punkt ist auch zu beachten, wenn die Kritik an Gräueltaten der so genannten Separatisten mit dem Hinweis darauf gekontert wird, dass die Bevölkerung in der Ostukraine auch unter dem ukrainischen Militär zu leiden habe. Dies mag zwar stimmen – der Krieg war noch nie ein Vorlesewettbewerb. Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, wo die Gewalt ihren Ausgang genommen hat.
Als die islamistischen Attentäter von Paris und Kopenhagen von der Polizei erschossen wurden, hat schließlich auch niemand gefragt, ob man der Täter nicht auch ohne Gewaltanwendung hätte habhaft werden können. Stattdessen ist die Polizei einhellig für die erfolgreiche Ergreifung der Täter und die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gelobt worden. In der Ukraine dagegen verlangt man von den Hausherren mit der größten Selbstverständlichkeit, sich mit gewaltbereiten Einbrechern an einen Tisch zu setzen und mit diesen darüber zu verhandeln, welche Zimmer des eigenen Hauses man eventuell noch bewohnen und welche Einrichtungsgegenstände man weiterhin nutzen darf.
Das ständig wiederholte Mantra der westlichen Staaten, alles andere als eine friedliche Lösung des Konflikts in der Ostukraine sei undenkbar, ist aber noch in einer anderen Hinsicht irrig. Denn diese Behauptung trifft nur für diejenigen zu, die sie aufstellen. Für die russische Führung ist eine kriegerische Lösung des Konflikts nicht nur denkbar – sie setzt sie vielmehr um, während andere über eine friedliche Lösung diskutieren.
Dies aber bedeutet, dass die westliche Herangehensweise an den Konflikt auf Selbstbetrug beruht. Es geht nicht darum, wie dieser Konflikt friedlich gelöst werden kann. Die Frage ist vielmehr, wie ich mit jemandem umgehen soll, der meine Friedenstaubenrhetorik mit dem Nicken des Musterschülers beantwortet, gleichzeitig aber vor Ort dem Recht des Stärkeren zur Durchsetzung verhilft. Soll ich ihm das überlassen, was er sich mit Gewalt nimmt, in der Hoffnung, dass seine Expansionslust irgendwann befriedigt ist? Oder muss ich mich irgendwann diesem Expansionsdrang entgegenstellen, weil die gewaltsamen Eroberungen sonst in eine ausgedehnte Gewaltherrschaft münden könnten, die meine Friedenstaubenrhetorik endgültig ersticken würde?
Es ist unendlich schwierig, diese Frage zu beantworten. Man kommt einer Antwort aber sicher nicht dadurch näher, dass man sich weigert, sie zu stellen.
4. Niemand, der sich sein Denken nicht von der Propaganda des Kremls diktieren lässt, glaubt daran, dass es in der Ostukraine eine von der russischen Führung unabhängige separatistische Bewegung gibt, auf welche die Friedensengel im Kreml allenfalls mäßigend einwirken können. Spätestens dann, wenn Putin und seine Oligarchenkamarilla ihre Kriegsziele erreicht haben, werden sie sich mit ihren Taten dort ebenso brüsten, wie sie es nach erfolgter Annexion der Krim getan haben.
Trotzdem erzeugt eine Sprachregelung, die von „Russland“ redet, wo Putin gemeint ist, falsche Vorstellungen. Denn wenn man von „Russland“ spricht, so ruft das bei manchen Ostalgikern Erinnerungen an wodkaselige Verbrüderungsabende im Rahmen der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft wach, während Altkommunisten im Westen sich dadurch in die romantischen Weltverbesserungstage ihrer 68er-Jugend zurückversetzt fühlen. So sehen sie sich dazu aufgerufen, eben jenes „Russland“ zu verteidigen, das eigentlich gerade sie gegen die geistige Verknechtung und ökonomische Austrocknung durch Zar Putin in Schutz nehmen müssten. Denn Putin und sein System haben mit Verbrüderungs- und Revolutionsromantik nicht das Geringste zu tun. Sie stehen vielmehr für das Paradox einer autoritären Demokratie und eine Führerkultur, die Rechtsextremen in ganz Europa als Vorbild dient.
Es ist zwar richtig, dass der Putinismus durch die allumfassende Kontrolle der russischen Medien in der Bevölkerung hohe Zustimmungswerte für seine nach innen autoritäre, nach außen expansive Politik erzielt. Dennoch ist es wichtig, die wahre Quelle der Aggression zu benennen, um erstens das russische Volk nicht mit dem System Putin über einen Kamm zu scheren und zweitens der Vermengung der Kreml-Propaganda mit dem Sehnsuchtsraum der russischen Seele den Boden zu entziehen.
Hier noch ein sehr lebendiger Beleg für die Existenz des anderen Russlands:
https://www.youtube.com/watch?v=KPPEWNt-z2M – Antwort russischer Studierender auf einen Appell ukrainischer Studierender; teilweise übersetzt in folgendem Beitrag des Deutschlandfunks:
Text als pdf: Separatisten und Terroristen