Die Instrumentalisierbarkeit von Gegenkulturen

Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit in Russland und den USA – Teil 7

Sowohl der emphatische russische Gemeinschaftsbegriff als auch der nicht minder emphatische US-amerikanische Freiheitsbegriff bilden eine tragfähige Basis für Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Beide können jedoch auch für entgegengesetzte Ziele missbraucht werden. 

Gegenkulturelle Offenheit

Gegenkultur und Imperialismus

Xenophobe Gegenkultur?

Notwendigkeit kritischer Selbstreflexion

Link-Tipp

Gegenkulturelle Offenheit

So unterschiedlich russische und US-amerikanische Alltagskultur auch sind: In ihrem Verhältnis zum Staat weisen beide doch überraschende Gemeinsamkeiten auf. Hier wie dort wird der Staat vor allem in der Form seiner Abwesenheit geschätzt.
In beiden Ländern gibt es starke Gegenkulturen, die dem Hegemonieanspruch des Staates ihre eigenen kulturellen Codes gegenüberstellen. In Russland wurzelt dieser gegenkulturelle Code im altrussischen Dorfleben. Sein Kern ist das Ideal einer vollkommenen Gemeinschaft, die allen offensteht. In den USA geht die Gegenkultur dagegen auf das Inseldasein der frühen Siedler zurück. In ihrem Zentrum steht folglich die unbedingte Freiheit des Einzelnen.
In beiden Ländern kann auf dem Boden der Gegenkulturen ein emphatisches Verständnis von Gastfreundschaft und Offenheit für Fremde gedeihen. In Russland ergibt sich dies aus der Tatsache, dass keine Gemeinschaft vollkommen sein kann, wenn sie andere ausschließt. Hilfsbedürftige draußen vor der Tür stehen zu lassen, würde deshalb auch die eigenen Ideale in Frage stellen.
In den USA resultiert die Hilfsbereitschaft dagegen eher aus dem Respekt vor dem Freiheitswillen der Hilfesuchenden. Wie man die eigene Freiheit um jeden Preis bewahren will, ist man auch bereit, anderen bei der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit beizustehen. Wie in Russland liegt die Hilfsbereitschaft auch hier letztlich im eigenen Interesse der Helfenden. Denn wer seine Freiheit dadurch zu schützen versucht, dass er sie einzäunt, baut sich damit in Wahrheit sein eigenes Gefängnis – und zerstört so das, was er bewahren möchte.

Gegenkultur und Imperialismus

Diese alltagskulturelle Offenheit für andere müsste in Russland wie in den USA logischerweise eine große Distanz gegenüber der staatlichen Politik bedingen – insbesondere gegenüber rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Strömungen. Allerdings lassen sich die zentralen Glaubenssätze der beiden Gegenkulturen auch leicht für politische Ziele instrumentalisieren, die ihnen im Kern entgegenstehen.
In den USA können Politiker etwa durch das Versprechen erfolgreich sein, sich in libertärer Weise für „weniger Staat“ einzusetzen, also für ein Heraushalten des Staates aus den privaten Angelegenheiten der Bürger. Und in Russland ist es erfolgversprechend, das Volk zu einer großen Familie zu erklären, über das der nationale Führer als Vatergestalt wacht. Politik wird hier also gewissermaßen an den Jargon der Privatsphäre angepasst.
In beiden Fällen lässt sich die Instrumentalisierung der gegenkulturellen Ideale auch noch einen Schritt weitertreiben, indem sie für imperialistische Ziele nutzbar gemacht werden. Dies ist etwa der Fall, wenn amerikanische Politiker davon sprechen, dass die Freiheit der US-Bürger durch die Politik anderer Länder gefährdet sei – weshalb man direkt oder indirekt auf diese Einfluss nehmen müsse.
In Russland gedeiht auf diesem Boden der Panslawismus. Mit der Behauptung, russischstämmige Menschen in anderen Ländern würden von den dortigen Regierungen davon abgehalten, ihre eigene Kultur auszuleben, lassen sich auch jene Menschen für imperialistische Ziele gewinnen, die der Machtzentrale des Staates ansonsten eher distanziert gegenüberstehen.

Xenophobe Gegenkultur?

Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu einer vollständigen Verdrehung der Ideale, die im Zentrum der jeweiligen Gegenkulturen stehen. In den USA kann dies durch die Behauptung geschehen, Einwanderer aus anderen Ländern würden die Freiheit der US-Bürger gefährden, indem sie Sicherheit und Wohlstand des Landes unterminierten. Auch der Kampf gegen Andersdenkende im Innern kann – wie die McCarthy-Ära mit ihrem Kampf gegen angebliche „unamerikanische Umtriebe“ gezeigt hat – auf diese Weise legitimiert werden. In Russland ist das entsprechende Feindbild die westliche Kultur mit ihren vermeintlich zersetzenden individualistisch-hedonistischen Tendenzen, deren Infiltrationsversuchen man entschlossen entgegentreten müsse.
So wird hier mit dem Appell an die zentralen Werte der Gegenkultur deren grundsätzliche Offenheit gegenüber dem Fremden in ihr Gegenteil verkehrt. Aus Gastfreundschaft wird Fremdenfeindlichkeit.

Notwendigkeit kritischer Selbstreflexion

Als Resümee bleibt somit festzuhalten, dass eine funktionierende Gegenkultur stets auch ein selbstkritisch-reflexives Element enthalten muss. Ansonsten läuft sie Gefahr, ins Fahrwasser des Irrationalen abzugleiten und dann eine leichte Beute jener zu werden, deren Machtansprüche sie der Idee nach abwehren soll.

Link-Tipp

Eine stärker psychologische Annäherung an das Problem der Fremdenfeindlichkeit findet sich in RB: Gelangweilte Krieger. Zur Psychologie des aggressiven Populismus.

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar