Gleichgeschlechtliche Liebe: Im Alltag angekommen? / Same-Sex Love: Arrived in Everyday Life?

Über das Chanson Grandiose der französischen Singer-Songwriterin Pomme /

A Summer Full of Love, 8

Trotz weitgehender rechtlicher Gleichstellung haben Homosexuelle auch im Alltag westlicher Länder noch mit Vorbehalten zu kämpfen. – Über ein Lied der französischen Chansonsängerin Claire Pommet (Pomme).

English Version

Grandios

Schon als mir klar wurde,
dass ich kein Anrecht darauf habe,
wünschte ich mir ein Kind in meinem Bauch.
Ich hätte sicher manchmal schweigen sollen
über den großen, bedrohlichen Wunsch.

Schon als meine Freunde mich belogen,
als sie mir sagten, dass ich wie die andern sei,
wünschte ich mir ein Kind in meinem Bauch,
dass wir uns lieben, ein grandioses Leben haben.

Grandios …
Das Leben, das ich entworfen habe
für dich,
dieses Leben, das man uns
fertig abgepackt verkauft,
ein solches Leben gibt es nicht
für uns.

Seit der ersten flüchtigen Berührung,
dem Blut, das für ein and’res Blut entflammte,
noch bevor mein Körper Liebe kannte,
wünschte ich mir ein Kind in meinem Bauch.

Doch meine Liebe sprach:
„Du bist nicht wie die andern!
Für Mädchen schlägt dein Mädchenherz,
kämpfen musst du
um ein grandioses Leben!“

Grandios …

Schon als mir klar wurde, …

Seit mich im grauen Glockenläuten
der Duft von wilden Rosen streifte,
wünsche ich mir ein Kind in meinem Bauch,
dass wir uns lieben, ein grandioses Leben haben.

Grandios …

Pomme: Grandiose

aus: Les Failles (2019)

Ein defensives Outing

„Ich bin schwul – und das ist auch gut so!“ Mit diesem mittlerweile sprichwörtlich gewordenen Satz wollte SPD-Politiker Klaus Wowereit 2001 der Boulevardpresse den Wind aus den Segeln nehmen. Statt durch eine schmutzige Enthüllungsstory seine Chancen auf das Bürgermeisteramt bei den bevorstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zu gefährden, ging er in die Offensive und outete sich selbst als homosexuell.

Die Rechnung ist bekanntlich aufgegangen – Wowereit bestimmte danach 13 Jahre lang die Geschicke der Hauptstadt. Dennoch stellt sich im Rückblick die Frage, warum es überhaupt eines solchen Satzes bedurfte. Schließlich blickte der Christopher Street Day damals schon auf eine über zwanzigjährige Erfolgsgeschichte zurück. Selbst im karnevalsbegeisterten Köln strömten damals mehr Menschen zu der Regenbogenparade als zu den Rosenmontagsumzügen.

In der Tat fällt bei genauerem Hinsehen auf, dass Wowereits Satz zwar mutig klingt, gleichzeitig aber einen defensiven Charakter hat. Dies gilt gerade für den Nachsatz. Denn homosexuell zu sein, ist an sich ja ebenso wenig „gut“ oder „schlecht“ wie heterosexuell zu sein, blonde oder rote Haare zu haben, diesen oder jenen Musikgeschmack zu haben. Wowereits trotziger Nachsatz ist somit gerade ein Beleg dafür, dass Homosexualität – zumal auf der Bühne der großen Politik – damals noch keineswegs normal war.

Daran, dass das heute anders ist, darf man zumindest Zweifel haben. Schließlich berichten Politiker, die sich zu ihrer Homosexualität bekennen, auch heute noch von Anfeindungen (1).

Wenn Ignoranz sich als Toleranz tarnt

In der Regel gebietet es heute die political correctness, etwaige Vorbehalte gegenüber einer offen ausgelebten Homosexualität hinter einer Maske der Toleranz zu verbergen. Dies kann für die Betreffenden allerdings noch unangenehmer sein als offene Ablehnung, weil so auch eine offene Auseinandersetzung mit homophoben Haltungen erschwert wird.

Genau diesen Widerspruch zwischen nach außen hin zur Schau gestellter Toleranz und innerer Distanz kritisiert auch die französische Singer-Songwriterin Pomme, die sich offen zu ihrer lesbischen Orientierung bekennt. In ihrem Chanson Grandiose wirft sie Freunden, die ihr bescheinigen, „wie alle anderen“ zu sein, Verlogenheit vor. Hintergrund ist offenbar, dass die Toleranz hier nicht das Ergebnis einer bewussten Akzeptanz von Andersartigkeit ist, sondern eher als Ignoranz erscheint, die sich als Toleranz tarnt.

Einen ähnlichen Widerspruch sieht die Sängerin, wie sie in einem Interview deutlich gemacht hat, auch auf der Ebene der Gesellschaft (2). Zwar sind homosexuelle Paare juristisch betrachtet in Frankreich mittlerweile weitgehend gleichberechtigt. Die gleichgeschlechtliche Ehe gibt es seit 2013, im Sommer 2021 wurde zudem auch das Recht homosexueller Paare auf künstliche Befruchtung gesetzlich geregelt (3).

Gleiche Rechte, aber keine Gleichstellung im Alltag

Dem steht Pomme zufolge jedoch eine mangelnde Akzeptanz gegenüber Homosexualität im gesellschaftlichen Alltag gegenüber. Dabei ist nicht nur an die von bis zu 100.000 Menschen besuchten Demonstrationen zu denken, mit denen seinerzeit die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe verhindert werden sollte (4). Die Sängerin berichtet vielmehr auch von fortgesetzten Pöbeleien bei Zärtlichkeiten zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren in der Öffentlichkeit (5).

Die Folge hiervon sei eine verbreitete Scheu, sich zu den eigenen Neigungen zu bekennen. Dadurch aber würden, so Pomme, homosexuellen Jugendlichen auch Rollenmodelle fehlen, an denen sie sich orientieren könnten. Daran trägt nach Einschätzung der Sängerin auch der Musikbetrieb eine Mitschuld. Die PR-Abteilungen dort würden das Image der Stars eher auf Mainstream-Tauglichkeit polieren – und deshalb offen zur Schau gestellte Normabweichungen unterbinden (6).

Wenn die Sängerin in ihrem Lied von dem fehlenden Recht auf die Erfüllung ihres Kinderwunschs singt, so ist dies, wie sie selbst betont, folglich nicht im juristischen Sinn zu verstehen. Sie denkt dabei vielmehr an das vorherrschende Lebensmodell, das eben noch immer an der traditionellen Familie mit Vater und Mutter ausgerichtet ist. Das Chanson ist denn auch, wie die Sängerin erzählt, an Weihnachten entstanden – einem Fest also, das wie kein anderes der Feier der Familie dient.

Mutiges Bekenntnis zur „Grandiosität“ des Normalen

So zeugt das Lied von einem dreifachen Mut: dem Mut, sich zu seinen Eigenarten zu bekennen, auch wenn sie dem Mainstream widersprechen; dem Mut, die als Toleranz getarnte Ignoranz einer oberflächlichen political correctness zu demaskieren; und dem Mut, einen Kinderwunsch als Akt der Emanzipation darzustellen – was auch eine heterosexuelle Frau dem Verdacht aussetzen könnte, einem konservativen Rollenmodell anzuhängen.

Aus dem Chanson ergibt sich damit ein ganz anderes Bild von Homosexualität, als es die Karnevalsumzüge des Christopher Street Days nahelegen. Nicht Promiskuität, sondern  das ganz normale Alltagsleben eines liebenden Paares ist hier das Ideal – eine stille „Grandiosität“, wie sie bis heute nicht mit gleichgeschlechtlichen Paaren assoziiert wird.

Erst wenn diese Normalität von Homosexualität erkannt und anerkannt wird, kann aus juristischer Gleichberechtigung auch Gleichstellung im Alltag werden. Dann muss sich auch niemand mehr trotzig für seine gleichgeschlechtliche Orientierung verteidigen wie einst der angehende Regierende Bürgermeister von Berlin.

Wer es wie mit wem treibt, ist dann wieder Privatsache. Schließlich werden ja auch Heterosexuelle nicht ständig nach ihren besonderen erotischen Vorlieben gefragt.

Über Pomme

Pomme ist der Künstlername der 1996 geborenen Musikerin Claire Pommet. Aufgewachsen in einem musikbegeisterten Elternhaus in einer Vorstadt von Lyon, hat sie schon früh eigene Lieder und Musikvideos kreiert.

Bereits als 19-Jährige erlangte sie mit ihrem Chanson J’suis pas dupe (Ich lasse mir nichts vormachen) überregionale Bekanntheit. Seit 2016 hat sie vier EPs und drei Longplayer veröffentlicht. Für einen großen Teil ihrer Chansons – darunter auch für Grandiose – hat sie selbst die Texte geschrieben und die Musik komponiert.

Nachweise

  1. Vgl. Witting, Volker: Wowereit: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so!“ Deutsche Welle, 9. Juni 2021.
  2. Vgl. das Interview mit Pomme im Sender Europe 1: Patri, Alexis: La chanteuse Pomme s’engage pour les droits des LGBT dans ses chansons, comme „Grandiose“. 11. September 2020.
  3. Vgl. Stern.de u.a.: Auch Singles und Homo-Paare: In Frankreich haben bald alle Frauen Anspruch auf künstliche Befruchtung. 8. Juni 2021.
  4. Vgl. Der Spiegel / AFP: Frankreich: Zehntausende demonstrieren gegen Homo-Ehe. 17. November 2012. Noch 2016 gab es in Paris eine Massendemonstration für die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe; vgl. Zeit online u.a.: Frankreich: Zehntausende demonstrieren in Paris gegen Homo-Ehe. 16. Oktober 2016.
  5. Vgl. Interview mit Pomme (s. 2).
  6. Vgl. ebd.

English Version

Same-Sex Love: Arrived in Everyday Life?

About the Chanson Grandiose by the French Singer-Songwriter Pomme

Even though they are largely equal in law, homosexuals still have to struggle with reservations in everyday life even in Western countries. – About a song by the French singer-songwriter Claire Pommet (Pomme).

Amazing

Ever since I realised
that I’m not entitled to it,
I’ve wished for a child in my belly.
Sometimes I probably should have kept quiet
about the big, threatening wish.

Ever since my friends lied to me
by telling me I was like the others,
I’ve wished for a child in my belly,
that we would love each other
and have an amazing life.

Amazing …
The life I have designed
for you,
this life that they sell us
pre-packaged, ready for use –
such a life does not exist
for us.

Since the first fleeting touch,
the blood inflamed by the blood of another,
even before my body knew love,
I’d wished for a child in my belly.

But Love spoke to me:
„You are not like the others!
For girls your girl’s heart beats,
you need to fight
for an amazing life!“

Amazing …

Ever since I realised …

Since in the grey ringing of church bells
the scent of wild roses has caressed me,
I’ve wished for a child in my belly,
that we would love each other
and have an amazing life.

Amazing …

Pomme: Grandiose

from: Les Failles (2019)

A Defensive Outing

„I’m gay – and that’s a good thing!“ With this now proverbial sentence, the social democratic politician Klaus Wowereit wanted to take the wind out of the tabloid press‘ sails in 2001. Instead of jeopardising his chances of becoming mayor of Berlin in the upcoming elections with a dirty disclosure story, he went on the offensive and outed himself as homosexual.

The calculation worked out pretty well – Wowereit won the elections and determined the fate of the capital for 13 years. Nevertheless, in retrospect, the question arises as to why such a sentence was needed at all. After all, Christopher Street Day was already looking back on a success story of more than twenty years at that time. Even in carnival-loving Cologne, more people flocked to the rainbow party than to the Rose Monday parades.

Indeed, a closer look reveals that Wowereit’s sentence sounds courageous, but at the same time has a defensive character. This is especially true of the follow-up sentence. After all, being homosexual is no more „good“ or „bad“ in itself than being heterosexual, having blond or red hair, preferring this or that kind of music. Wowereit’s defiant epilogue therefore proves that homosexuality – especially on the stage of big politics – was by no means normal at that time.

One may at least have doubts that the situation has fundamentally changed since then. After all, politicians who confess to their homosexuality still report hostility today (1).

When Ignorance Disguises Itself as Tolerance

As a rule, political correctness today requires that any reservations about openly expressed homosexuality be concealed behind a mask of tolerance. However, this can be even more unpleasant for those concerned than open rejection, because it also makes it more difficult to openly confront homophobic attitudes.

It is precisely this contradiction between outwardly displayed tolerance and inner distance that the French singer-songwriter Pomme, who openly admits to her lesbian orientation, criticises. In her chanson Grandiose, she accuses friends who tell her she’s „like everyone else“ of mendacity. The background to this is obviously that tolerance here is not the result of a conscious acceptance of otherness, but rather appears as ignorance disguised as tolerance.

As the singer made clear in an interview, she sees a similar contradiction at the level of society (2). It is true that homosexual couples in France today are largely equal before the law. Same-sex marriage became legal in 2013, and in 2021 the right of homosexual couples to artificial insemination was also regulated by law (3).

Equal Rights, but No Equality in Everyday Life

According to Pomme, however, there is a lack of acceptance of homosexuality in everyday life in France. This does not only refer to the demonstrations attended by up to 100,000 people to prevent the introduction of same-sex marriage (4) in 2013. The singer also reports about the continued harassment of same-sex couples in public (5).

The consequence of this is a widespread shyness to admit to one’s own inclinations. As a result, according to Pomme, homosexual youths lack suitable role models.

Furthermore, the singer observes reservations about same-sex love in the music business. There, the PR departments would tend to polish the image of the stars for mainstream suitability – and thus discourage openly displayed deviations from the norm (6).

The difficulties mentioned in the song in fulfilling her wish to have a child are therefore – as the singer emphasises – not to be understood in a legal sense. Rather, they refer to the prevailing model of life, which is still oriented towards the traditional family with father and mother. It fits in with this that the chanson, as the singer recounts, was written at Christmas – a festival that, more than any other, serves to celebrate the family.

Courageous Commitment to the „Grandiosity“ of Ordinary Life

Thus, the song testifies to a triple courage: the courage to confess to one’s peculiarities, even if they contradict the mainstream; the courage to unmask the ignorance of a superficial political correctness disguised as tolerance; and the courage to present the desire for a child as an act of emancipation – which could expose even a heterosexual woman to the suspicion of adhering to a conservative role model.

The chanson hence conveys a very different image of homosexuality than the carnival parades of Christopher Street Day suggest. The ideal here is not promiscuity, but the completely normal everyday life of a loving couple – a quiet „grandiosity“ that is not associated with same-sex couples to this day.

Only when this normality of homosexuality is recognised and acknowledged can legal equality also become equality in everyday life. Then no one will have to defiantly defend their same-sex orientation like the former mayor of Berlin once did.

Who does it with whom and how is then again a private matter. After all, heterosexuals are not constantly asked about their particular erotic preferences either.

About Pomme

Pomme is the stage name of Claire Pommet, born in 1996. Raised in a music-loving home in a suburb of Lyon in the south of France, she created her own songs and music videos at an early age.

At the age of 19, she achieved national fame with her chanson J’suis pas dupe (I won’t be fooled). Since 2016, she has released four EPs and three longplayers. For a large part of her chansons – including Grandiose –she wrote the lyrics and composed the music herself.

References

  1. Cf. Witting, Volker: Wowereit: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so!“(Wowereit: „I am gay – and that’s a good thing!“) Deutsche Welle, June 9, 2021.
  2. Cf. interview with Pomme on Europe 1: Patri, Alexis: La chanteuse Pomme s’engage pour les droits des LGBT dans ses chansons, comme „Grandiose“ (Singer Pomme speaks out for LGBT rights in her songs, like „Grandiose“). September 11, 2020.
  3. Cf. Stern.de et al.: Auch Singles und Homo-Paare: In Frankreich haben bald alle Frauen Anspruch auf künstliche Befruchtung (Singles and gay couples too: In France all women will soon be entitled to artificial insemination). June 8, 2021.
  4. Cf. Spiegel Online / AFP: Frankreich: Zehntausende demonstrieren gegen Homo-Ehe (France: Tens of thousands demonstrate against gay marriage). November 17, 2012. As recently as 2016, there was a mass demonstration in Paris for the abolition of same-sex marriage; cf. Zeit online et al: Frankreich: Zehntausende demonstrieren in Paris gegen Homo-Ehe. (France: Tens of thousands demonstrate in Paris against gay marriage). October 16, 2016.
  5. Cf. interview with Pomme (see 2).
  6. Cf. ibid.

Bilder / Images: Simeon Solomon (1840 – 1905): Die antiken griechischen Dichterinnen Sappho und Erinna in einem Garten in Mytilene / The archaic Greek poets Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene (1864); London, Tate Britain (Tate Gallery; Wikimedia Commons); Eddy Llrg: Pomme bei einem Konzert in Bourges / Pomme at a concert in Bourges, 2020 (Wikimedia Commons); Franz von Stuck (1863 – 1928): Die Tänzerinnen / The dancers (1896); Wikimedia Commons

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s